Warum das Europäische Parlament nicht abgeschafft werden sollte

, von  Simon Hix, übersetzt von Anna Dunne

Warum das Europäische Parlament nicht abgeschafft werden sollte
Abstimmung im Europäischen Parlament © European Union 2011

Der ehemalige britische Außenminister Jack Straw hat sich neulich für die Abschaffung des Europäischen Parlaments stark gemacht. Es leide unter einem unabänderlichen “demokratischen Defizit” und sollte durch eine Versammlung von nationalen Parlamenten ersetzt werden. Dagegen argumentiert Simon Hix, dass bisherige Erfahrungen vielmehr belegen, dass das Europäische Parlament eine gewaltige Geschäftsordnung erfolgreich bewältigt und sich in den meisten Ländern aktiv mit den Belangen der europäischen Bürger auseinandersetzt. Um am effektivsten die unzureichenden demokratischen Rechenschaftspflichten der britischen MdEPs anzugehen, sollten die Wahlverfahren für die britischen Mitglieder des Europäischen Parlaments verbessert werden um damit den Wählern eine breitere Auswahl zur Verfügung zu stellen und den Parteien weniger Kontrolle zu gewähren.

In einem vor kurzem stattgefundenen Seminar beim Institute for Public Research (IPPR), einem Mittelinks-Think-Tank in London, hat der ehemalige britische Außenminister Jack Straw die Auflösung des direkt gewählten Europäischen Parlaments gefordert. Stattdessen befürwortete er eine Rückkehr zur indirekt gewählten Versammlung der Vertreter der 27 nationalen Parlamente (nach der bis zum Jahre 1979 geltenden Regelung). Diese Idee ist zwar nicht neu, jedoch ist es überraschend, dass dieses Argument nun von einem erfahrenen und europafreundlichen britischen Politiker stammt – einem Mann, der seit vielen Jahren zahlreiche Spitzenpositionen im britischen Kabinett inne hatte, u. a. als Home Secretary (Innenminister) und als Foreign Secretary (Außenminister). Straws Bemerkungen haben innerhalb kurzer Zeit eine Welle von Gegenargumenten in der liberalen Tageszeitung The Guardian ausgelöst.

Ich selber teilte das Podium mit Herrn Straw an diesem IPPR Seminar und nahm sofort die Gelegenheit wahr, die Ungerechtigkeit seiner Aussagen zu betonen. Das Europäische Parlament ist immerhin im politisch-verfassungsrechtlichen Sinne immer noch eine sehr junge Institution. Eine starke Verbindung zwischen europäischen Wählern und MEPs zu schaffen, erfordert allerdings viel Zeit. Man sollte auf keinen Fall annehmen, dass der Mangel an demokratischen Rechenschaftspflichten der britischen MdEPs (die der Öffentlichkeit unbekannt sind) auf alle anderen Mitgliedsstaaten übertragen werden kann. Zudem habe ich eingewandt, dass eine Rückkehr zum vor-1979 Modell des Europäischen Parlaments das demokratische Defizit eher verschlimmern als verbessern würde.

Erstens ist die Wirkungslosigkeit des indirekt gewählten Parlaments der 1970er in Vergessenheit geraten. Nationale Abgeordnete sind in der Regel schon mit nationaler Politik viel zu beschäftigt, um sich darüber hinaus in die EU-Politik einzubringen. Das war schon vor 1979 ein großes Problem, als lediglich nationale Politiker zweiter Wahl sich freiwillig für die zusätzliche Arbeit in Brüssel oder Straßburg gemeldet haben. Dieses Problem wäre heutzutage aufgrund der erweiterten politischen Agenda der EU, den umfassenden legislativen Befugnissen des heutigen Europäischen Parlaments und der Erweiterung des europäischen Binnenmarktes und der politischen Institutionen auf insgesamt 27 Staaten und 500 Millionen Bürger, noch stärker ausgeprägt.

Heutzutage muss das Europäische Parlament jährlich 150 bis 200 Gesetzesvorhaben genau überprüfen und abändern. Es ist für die Überprüfung eines jährlichen Budgets von mehr als 120 Milliarden Euro zuständig. Es überwacht die Aktivitäten der Kommission und deren zahlreiche Generaldirektionen. Es arbeitet regelmäßig mit dem Europäischen Rat zusammen. MdEPs kontrollieren die Europäische Zentralbank und alle EU Behörden – und ziehen diese Institutionen zur Verantwortung. Darüber hinaus antwortet das Parlament auf zahlreiche Anfragen von Bürgern, Interessensverbänden, Regierungen, politischen Parteien, Journalisten, Industrieverbänden, Handelsverbänden, Gewerkschaften, Organisationen der Zivilgesellschaft sowie nationalen Politikern und Beamten. Dabei wird um Informationen zu europäischen Angelegenheiten, um die Möglichkeit, Politikgestaltungsdebatten und Untersuchungen mitzugestalten und um Unterstützung beim Einsetzen diverser Themen und Ansichten auf die vielen verschiedenen politischen Tagesordnungen der EU gebeten.

Tabelle 1 soll einen tieferen Einblick über die Leistung des Europäischen Parlaments im Vergleich zum britischen House of Commons geben. Die ersten drei Reihen zeigen, dass das Europäische Parlament sechsmal so viele Gesetze wie das britische House of Commons verabschiedet hat und siebzehn mal so viele namentliche Abstimmungen durchgeführt hat. Ein kleinerer Indikator seines Ansehens in der Öffentlichkeit ist, dass es auch viel mehr ‘gefällt mirs’ auf Facebook als das House of Commons gesammelt hat. Die Abgeordneten in Westminster haben hingegen viel mehr Fragen an ihre Minister gerichtet als ihre Kollegen in Europa und haben auf anderen Social-Media-Indizes besser abgeschnitten. (Man sollte auch nicht vergessen, dass die Anzahl der Wahlberechtigten für das Europäische Parlament achtmal so hoch ist, wie für Westminster.

Diese Indikatoren stellen jedoch nur erste Hinweise dar und Politikwissenschaftler müssen sich auf jeden Fall Gedanken darüber machen, wie man am besten ein umfassendes Indikatorensystem parlamentarischer Aktivität entwickelt. Dennoch zeigen diese Zahlen schon gewissermaßen, dass kein nationaler Abgeordneter die Zeit, Kraft oder Kompetenz hätte, diese repräsentativen Tätigkeiten auf europäischer Ebene effektiver als die aktuellen MdEPs durchzuführen. Die meisten MdEPs sind hoch motiviert und sind sowohl bei den Ausschusssitzungen in Brüssel als auch bei den Plenarabstimmungen in Straßburg anwesend.

Zweitens, gelingt es den MdEPs in ordentlichem Maße, die Regierungen im Europäischen Rat und die Kommission zur Verantwortung zu ziehen sowie wenn nötig bei der Politikgestaltung und der Gesetzgebung als Bremse zu wirken. Immer wieder hat das Europäische Parlament unausgereifte Gesetzesentwürfe der Kommission verbessert, von Regierungen zum Schutz der Eigeninteressen eingeführte Gesetzesänderungen blockiert, und, zum Schutz der Interessen der europäischen Verbraucher oder Arbeitnehmer, Gesetze verändert. Etwa 25 Prozent der vom Europäischen Parlament vorgeschlagenen Gesetzesänderungen werden verabschiedet – wesentlich mehr als in den nationalen Parlamenten Europas. Besonders beeindruckend erscheint diese Zahl im Vergleich zum Vereinigten Königreich, wo parlamentarische Mehrheiten in Westminster oft gezwungen werden, sich den Gesetzesvorschlägen der Regierung bedingungslos anzuschließen.

Ein aktuelles Beispiel der positiven Auswirkungen des Europäischen Parlaments bildet die Neuverhandlung des SWIFT-Abkommens zwischen den USA und der EU im Jahre 2010. Europäische Regierungen hatten mit den Vereinigten Staaten ein Abkommen unterzeichnet, nach dem Informationen über finanzielle Transaktionen der europäischen Bürger mit dem US Department of Homeland Security zu teilen waren. Keine einzige der 27 EU-Regierungen fand das Abkommen problematisch! Wir können aber dankbar dafür sein, dass das Europäische Parlament das Abkommen mit der Begründung zurückwies, dass es die Europäische Union verpflichten würde, Daten mit den amerikanischen Behörden zu teilen, die die US-Regierung laut föderalem Recht von ihren eigenen Staatsbürgern nicht einmal erheben darf. Meiner Einschätzung nach hätten die nationalen Parlamentarier, die ihren nationalen Regierungen verpflichtet sind, nachgegeben und ihre Regierungen unterstützt.

Schließlich, nach der Ablehnung des Europäischen Parlaments, ist US-Vizepräsident Joe Biden nach Brüssel geflogen, um sich mit den Gesetzgebern zu besprechen und hat die meisten Bedenken der MdEPS anerkannt. Letzten Endes wurde eine Vereinbarung zwischen der US-Regierung und dem Europäischen Parlament getroffen, die von den Regierungen entsprechend akzeptiert wurde. In diesem Fall wurden die Rechte der britischen Staatsbürger weit besser vom Europäischen Parlament geschützt, als von der britischen Regierung.

Drittens, in Bezug auf die schwachen Beziehungen zwischen britischen Wählern und dem Europäischen Parlament, stimmt es schon, dass nur wenige Briten wissen, wer ihre MdEPs sind. Auch ist wahr, dass die Wahlkämpfe um das Europäische Parlament im Vereinigten Königreich grundsätzlich von innenpolitischen Themen geprägt sind sowie von der Leistung der nationalen Politikern, anstatt schwerpunktmäßig europäische und EU-Themen oder die Leistung der britischen MdEPs zu erfassen.

Ein Grund dafür ist die heimische Berichterstattung in den Medien. Die MdEPs sind nicht Schuld dafür, dass Bürger bzw. nationale Politiker die Aktivitäten des Europäischen Parlaments nicht wahrnehmen. Die Schuld liegt eher bei nationalen Politikern und Medien – wie z. B. der BBC – die sich weigern, der Berichterstattung der tagtäglichen Politik in Brüssel etwas Zeit zu widmen.

Die schwache Beziehung der Wähler zu den britischen MdEPs ist zudem weniger auf die Funktionsweise des Europäischen Parlaments als auf die Art und Weise, wie MdEPs im Vereinigten Königreich gewählt werden, zurückzuführen. Seit dem Jahre 1999 werden britische MdEPs durch eine Art regionalem, auf Parteilisten basierendem Verhältniswahlrecht gewählt. Dabei können Wähler nur zwischen Parteien und nicht zwischen individuellen Politikern entscheiden. Dieses System geschlossener Wahllisten (sog. closed list-System) überlasst die Entscheidung, in welcher Reihenfolge die Kandidaten gewählt werden, einzig und allein den Parteien.

Das closed list-System bietet einzelnen MdEP-Kandidaten weder Möglichkeiten noch Anreize an, im Laufe des Wahlkampfs Wähler direkt anzuwerben. In der Mehrheit der anderen EU-Staaten – z. B. in Irland, den Niederlanden, Belgien, Italien, Schweden, Dänemark, Finnland, der Slowakei, Slowenien, Lettland, Lithuanien, Estland und Malta – wird hingegen eine Form des Verhältniswahlrechts eingesetzt, das den Wählern die Auswahl zwischen Kandidaten derselben politischen Partei ermöglicht, das sog. open list-Verhältniswahlrecht. Wenn Politiker der gleichen Partei miteinander konkurrieren müssen, verbringen sie selbstverständlich mehr Zeit damit, den Wählern direkt anzuwerben.

Daher hat die Forschung nachgewiesen, dass Bürger aus EU-Ländern die ein open list-Verhältniswahlsystem für EP-Wahlen verwenden, viel häufiger von ihren MdEPs kontaktiert werden und Information über das Europäische Parlament während der Wahlkämpfe erhalten, als Bürger, die in einem closed list-Land zu den Urnen gehen. Die Wahlbeteiligung an den EP-Wahlen ist auch in den open list-Staaten tendenziell höher als in den closed list-Ländern.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass nationale Politiker im Vereinigten Königreich damit aufhören sollten, das Europäische Parlament und die britischen MdEPs dafür verantwortlich zu machen, dass es britischen Politikern und den britischen Medien nicht gelungen ist, britische Staatsbürger über europäische Themen oder über die Funktion des EP ausreichend zu informieren. Die schwache Verbindung zwischen Wählern und MdEPs in Großbritannien liegt eigentlich am Versäumnis aufeinanderfolgende britischer Regierungen, ein open list-Verhältniswahlsystem für EP-Wahlen im Vereinigten Königreich einzuführen.

Dieser Gastbeitrag erschien zu erst am 5. März 2012 in EUROPP- European Politics and Policy, dem neuen Blog der London School of Economics and Political Science zu europäischer Politik.

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