Brief an Europa: Mehr Europa wagen

, von  Gesine Weber

Brief an Europa: Mehr Europa wagen
Überall in Europa haben sich im Jahr 2017 mehr Menschen für die europäische Idee eingesetzt - Rückenwind fürs neue Jahr. Foto: Charles Clegg / Flickr/ CC BY-SA 2.0

Im Jahr 2017 haben zivilgesellschaftliche Organisationen Europa für sich wiederentdeckt. Ein Brief an Europa an all diejenigen überzeugten Europäer*innen, die die europäische Idee 2017 verteidigt haben - und auch 2018 gebraucht werden.

Liebe überzeugte Europäer*innen,

vor einem Jahr adressierten wir an dieser Stelle einen Brief an die deutschen Rechtspopulisten und Europagegner: “2017 wird ein geiles Jahr für euch.“ Heute müssen wir sagen: Leider hatten wir Recht. Die erwarteten Hasskommentare auf treffpunkteuropa.de sind zwar ausgeblieben - das hätte schließlich impliziert, dass man unsere Artikel lesen und dazu die Seite besuchen müsste -, an anderen Stellen im Netz und in der Öffentlichkeit ließen sie jedoch nicht auf sich warten. Der AfD ist es in Deutschland teilweise gelungen, Rechtspopulismus und seine Ideen salonfähig zu machen und einen Rechtsruck anzustoßen. Bei ihren Hardlinern sind rote Linien der Verfassung im Zweifelsfall Nebensache - etwa, wenn Beatrix von Storch auf Flüchtlinge an der Grenze im Zweifel schießen lassen oder Alexander Gauland die Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz in Anatolien „entsorgen“ will. Im Deutschen Bundestag sitzen heute 92 Abgeordnete, die diesem Gedankengut zumindest soweit zustimmen, dass sie der AfD-Fraktion angehören. Zum krönenden Ende dieses Jahres trafen sich Mitglieder aller rechtspopulistischen Parteien zum gemeinsamen Kongress in Prag. Das Ziel: Die EU endgültig abschaffen.

2017 war ein phantastisches Jahr für Rechtspopulisten, keine Frage. Aber: Es hätte noch viel besser laufen können, wenn ihr als organisierte proeuropäische Zivilgesellschaft nicht ständig dazwischen gegrätscht wären. Im Jahr 2017 schien es, als hättet ihr in Parteien die Relevanz europapolitischer Themen wiederentdeckt, als wären neue Verbände und Bewegungen zur Förderung proeuropäischer Politik nahezu aus dem Boden geschossen, und als hättet ihr als proeuropäische Vereine endlich entdeckt, dass ihr nicht nur für eure Mitglieder existiert. Mit Pulse of Europe seid ihr europaweit auf die Straße gegangen, im Rahmen der Bewegung The European Moment habt ihr öffentlichkeitswirksam eine Petition für mehr europäische Demokratie gestartet. In Großbritannien haben selbst Theresa May und David Davis euch mit euren europäischen Ideen nicht zum Schweigen bringen können, sodass Ende des Jahres 2017 zum ersten Mal ein Großteil der Briten wieder für einen Verbleib in der EU wäre. Der größte Coup ist euch Proeuropäern jedoch in Frankreich gelungen: Sie, Präsident Macron, haben Europa zum Herzstück Ihrer Kampagne gemacht, und damit gegen Marine Le Pen hoch gepokert. Und voilà, heute steuert die République Française nicht auf einen Frexit zu, ganz im Gegenteil. Chapeau, liebe Mitglieder von En Marche!


Europa wird endlich wieder diskutiert - dank euch, und das ist gut so! Vor allem junge Menschen erkennen, dass Europa kein Geschenk des Himmels, sondern das Ergebnis von politischer Arbeit ist, das Ergebnis einer Geschichte von Verhandlungen und Kompromissen und nicht selten Frustration. Eure Arbeit zeigt den Wert der Europäischen Union, dass es ein Privileg ist, sich zwischen Ländern so selbstverständlich zu bewegen wie zwischen Nachbarstädten, und überall in der EU dieselben Rechte wie Staatsbürger zu genießen. Aber hier hört die Arbeit von euch als überzeugte Europäer*innen in Parteien, Vereine, Verbände und Bewegungen nicht auf, hier fängt sie erst richtig an: Ihr dürft euch nicht auf diesem Erfolg ausruhen, denn die europäische Idee braucht Menschen, die sich für sie einsetzen und immer wieder daran erinnern, dass ein Europa der Einheit in der Vielfalt uns alle weiterbringt.

Als Europäer*innen in Parteien ist für euch wichtig: Setzt Europa klar auf eure Agenda. Für Parteien, die sich für eine Vertiefung der europäischen Integration einsetzen, darf Europa keine Nebensache sein. Europa gehört nicht in einen Nebensatz oder auf zwei Seiten ans Ende eures Parteiprogramms, sondern muss eine Referenz für eure Politikgestaltung auf nationaler Ebene sein. Nationale Politik ist de facto europäisiert, und das müsst ihr erklären, denn so gute Ideen wie Europa brauchen gute Kommunikation. Es liegt an euch, in Schlüsselpositionen im Staat oder im Parlament für ein europäisches Deutschland, ein europäisches Frankreich oder ein europäisches Kroatien zu werben. Genau aus diesem Grund ist es richtig und wichtig, dass Spitzenpolitiker wie Martin Schulz die Vereinigten Staaten von Europa fordern. Aber er sollte es nicht als einziger tun.

Für euch, Europäer*innen in Vereinen, muss gelten: Theoriedebatten sind wichtig, aber sie dürfen euch nicht lähmen. Vergesst nicht, dass ihr nicht nur zum Selbstzweck da seid, eure Mitglieder zu bespaßen, sondern dass ihr euch für ein Ziel einsetzt, das auch Menschen erreichen muss, die nicht vorrangig eure oftmals junge und gut gebildete Zielgruppe sind. Natürlich müssen Debatten geführt werden, wofür man sich eigentlich einsetzt - aber die Frage, ab wann wir Europa „föderal“ und ab wann einen „Bundesstaat“ nennen, darf nicht wichtig sein als die Idee, die ihr gegenüber Menschen aller gesellschaftlichen Milieus vertreten solltet. Geht in Schulen, in Problembezirke, und tragt die europäische Idee in die Gesellschaft.

Wenn ihr euch als Europäer*innen in Bewegungen engagiert: Seid laut und bleibt es. Lauft weiterhin mit Bannern durch die deutschen Innenstädte und zeigt, dass zwölf goldene Sterne auf blauem Grund in Heidelberg genauso gut aussehen wie in München oder Dresden oder Berlin. Erinnert Menschen daran, dass ihr für eine bunte und offene Gesellschaft steht, und dass Europa nicht nur das größte Friedensprojekt der Geschichte ist, sondern unsere Zukunft.

Unabhängig davon, ob ihr euch in einer Partei, einem Verein oder einer Bewegung organisiert, ob ihr mit Erasmus in Europa unterwegs seid oder nur eure Ferien mit Interrail verbringt, ob ihr an eurer Heimatuniversität Erasmus-Buddy seid oder einen Austausch zwischen zwei kleinen Partnergemeinden in Europa organisiert: Danke, dass es euch gibt. Es ist wichtig, dass die europäische Idee Vertreter*innen hat, die sie überall in Europa erfahrbar machen und denen es gelingt, die berühmte faktische Solidarität erlebbar zu machen, von der Robert Schumann einst sprach.

Wer Visionen hat, sollte nicht, wie Altkanzler Helmut Schmidt vorschlug, zum Arzt gehen. Er sollte sich für diese Visionen einsetzen, wie es Jacques Delors oder Willy Brandt getan haben, denn Scheitern ist noch immer besser als Kapitulieren. Ein geeintes Europa sollte nicht nur eine Vision sein, sondern ein Ziel, das es zu erreichen gilt. Deshalb gilt für 2018 mehr denn je: Lasst uns mehr Europa wagen.

Beste Grüße


Gesine Weber

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