Debatte: Artikel 7 gegen Ungarn und Polen gleichzeitig?

, von  Magdalena Okonska

Debatte: Artikel 7 gegen Ungarn und Polen gleichzeitig?
Hat weder die Stellung eines Regierungschefs noch des Präsidenten inne: Jaroslaw Kaczynski. Piotr Drabik / wiki / CC BY 2.0

Bei einem drohenden Verfahren nach Artikel 7 sichern sich Orbán und Kaczynski gegenseitige Unterstützung zu. Seit einiger Zeit wird deshalb die gleichzeitige Anwendung der „nuklearen Option“ gegen zwei Mitgliedstaaten diskutiert. Nach Meinung der Juristin Magdalena Okonska hängt die gemeinsame Verwendung von der Auslegung des Art. 7 EUV ab. Im Interview erörtert sie Chancen und Risiken des Verfahrens.

Treffpunkteuropa.de: Die Europäische Union ist eine Werte- und Rechtsgemeinschaft. Die von der polnischen Regierung geplante Justizreform gibt dem Justizminister weitreichende Befugnisse über die Besetzung von Richterposten. Eine de facto Verletzung der Verfassung und ein Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz, so die Kritik von Juristen aus Polen und dem europäischen Ausland. In Ungarn bemühte sich die Regierung Orbán nach ihrem Wahlsieg 2010 um eine Verfassungsänderung und einen Austausch der Richter. Was sind die größten Überschneidungen, was die größten Unterschiede in diesen beiden Fällen?

Magdalena Okonska: Auf den ersten Blick erscheinen die Vorgänge in Ungarn und Polen sehr ähnlich. In beiden Staaten wurden grundlegende Verfassungsreformen durchgeführt, die mit dem nationalen und europäischen Recht nicht vereinbart sind. Sowohl in Ungarn als auch in Polen wurden die Richter des Verfassungsgerichts in den Ruhestand versetzt und mit loyalen Kandidaten ersetzt.

Beide Regierungen wollten sich durch diese Änderungen von der kommunistischen Vergangenheit trennen und hielten die Maßnahmen für notwendig. Auch Reformen der Mediengesetze wurden in beiden Ländern durchgeführt, welche eine unmittelbare Bedrohung für die Meinungs- und Informationsfreiheit darstellen.

Bei allen diesen Gemeinsamkeiten gibt es natürlich auch Unterschiede. In Ungarn wurde die Verfassung bereits geändert, während in Polen ein solches Vorhaben erst abstrakt für die Zukunft besteht. Außerdem ist die Position des Ministerpräsidenten Orban deutlich stärker, als die von Kaczynski, der weder die Stellung eines Regierungschefs- noch des Präsidenten hat. Dies konnten wir vor allem letzte Woche bemerken, als der polnische Präsident Andrzej Duda sein Vetorecht gegen zwei Justizreformen ausgeübt hat. Eine solche Situation wäre in Ungarn undenkbar.

Ein großer Unterschied zwischen den beiden Ländern besteht auch darin, dass Orbans Partei Fidesz, im Gegensatz zur PiS Partei, das Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP) ist. Aus diesem Grunde scheitern viele Maßnahmen der EU meistens am Vetorecht der EVP.

Die EU-Kommission leitete vergangenen Samstag ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die polnische Regierung ein. Außenminister Waszczykowski teilte mit, dass sich das Verfahren über Monate hinziehen könne. Welche Aussichten auf Erfolg hat das Vertragsverletzungsverfahren?

Das gegen Polen eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren kann man mit dem Verfahren gegen Ungarn aus dem Jahr 2012 sehr gut verglichen werden. In beiden Fällen verstoßen die nationalen Vorschriften nach der Ansicht der EU-Kommission gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, indem sie die Richter aufgrund ihres Alters diskriminieren. Das neue polnische Gesetz über die Arbeitsweise und Organisation der ordentlichen Gerichte schreibt nämlich ein unterschiedliches Mindestalter für den Ruhestand für weibliche Richter (60 Jahre) und männliche Richter (65 Jahre) vor.

Außerdem scheint die Unabhängigkeit der polnischen Gerichte nach Ansicht der Kommission gefährdet zu werden, da der Justizminister dazu ermächtigt wird, nach eigenem Ermessen die Amtszeit von Richtern, die das Renteneintrittsalter erreicht haben, zu verlängern und Gerichtspräsidenten zu entlassen und zu ernennen. Das EuGH hat im Verfahren gegen Ungarn dargelegt, dass solche nationalen Regelungen eine Ungleichbehandlung herbeiführen und zur Erreichung der verfolgten Ziele weder geeignet noch erforderlich sind und somit gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen.

Eine solche Entscheidung ist auch im polnischen Fall auf jeden Fall denkbar, da die vorgelegten Verstöße sehr ähnlich sind. Außerdem steht der EU-Kommission auch die Möglichkeit die Beschleunigung des Verfahrens zu beantragen, so dass die Entscheidung des EuGH innerhalb weniger Monate ergehen könnte. Werden die geltend gemachte Verstoße durch den Gerichtshof bestätigt und beseitigt die polnische Seite die Ungleichbehandlung nicht, drohen dann Polen finanzielle Sanktionen.

Bereits im Frühjahr 2016 wurde gegen die polnische Regierung ein Rechtsstaatsverfahren eingeleitet. Damals ging es um die Reform des Verfassungsgerichts. Warum hat das Rechtsstaatsverfahren keine Ergebnisse gebracht?

Das Rechtsstaatsverfahren gilt vor allem als Vorstufe zum Verfahren nach Art. 7 EUV und gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ihre Probleme rechtzeitig zu beseitigen. Die erste Stufe dieses Verfahrens stellt die Sachstandsanalyse der Kommission dar, in der sie alle relevanten Informationen sammelt und prüft, ob es eindeutige Hinweise für eine drohende Gefahr für die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit vorhanden sind.

Wenn eine systematische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit festgestellt werden kann, führt die EU-Kommission mit dem jeweiligen Mitgliedstaat einen Dialog, indem sie eine Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit an diesen Staat richtet. In diesem Schreiben führt sie ihre Bedenken aus und gibt dem Mitgliedsstaat eine Möglichkeit der Stellungnahme. Hat dieser Staat die geäußerten Besorgnisse nicht beseitigt, folgt die zweite Stufe des Verfahrens, also die Aussprache einer Empfehlung.

Schließlich prüft die Kommission in der dritten Phase, ob der betroffene Mitgliedsstaat tatsächlich gehandelt hat und die Probleme gelöst worden sind. Im Falle der Nichtzufriedenstellung, kann sie die Maßnahmen nach Artikel 7 EUV einleiten. Das Rechtsstaatsverfahren ist auch mit keinen Straf- oder Sanktionsmöglichkeit ausgestattet. Aus diesem Grund hat die polnische Regierung auf die Maßnahmen der Kommission zwar immer geantwortet aber selten die Probleme beseitigt, da sie anderer Ansicht als die EU war.

Gegen die ungarische Regierung wurde 2012 ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, weil die Regierung Orbán massenweise Richter in den Ruhestand versetzte. Der Eropäische Gerichtshof (EuGH) sprach damals von einer „nicht gerechtfertigten Altersdiskriminierung“. Orbán konnte sich damit begnügen die Richter zu entschädigen. Hat ein Vertragsverletzungsverfahren die richtige Hebelwirkung, wenn es um massive Angriffe auf die Verfassung geht?

Das Vertragsverletzungsverfahren ist an sich ein sehr wirksames Mittel. Nach dem der Europäische Gerichtshof einen Verstoß gegen das EU-Recht feststellt, muss der jeweilige Mitgliedstaat dem Urteil folgen und beispielsweise eine umstrittene Reform zurückziehen. Sollte der Staat die geforderten Maßnahmen nicht unternehmen, drohen schmerzhafte Zwangsgelder für jeden weiteren Tag einer Zuwiderhandlung. Im Fall Ungarn hat der EuGH eine nicht gerechtfertigte Altersdiskriminierung festgestellt. Orban hat die Richter nur entschädigt, ihre frühere Position haben sie nicht mehr erlangt. Dies ist natürlich problematisch, da er auf dieser Art und Weise, die von ihm nicht gewollten Personen entfernt und dadurch sein Ziel erreicht hat. Dass eine bloße Entschädigung der Richter in diesem Fall ausgereicht hat, zeigt natürlich die Schwäche dieses Verfahrens.

Man darf an dieser Stelle jedoch nicht vergessen, dass das ungarische Parlament die umstrittene Reform aufgehoben hat. Ungarn hat sein innerstaatliches Recht mit dem EU-Recht in Einklang gebracht hat, indem es ein neues Gesetz verabschiedet hat. Danach sollte das Pensionsalter für Richter, Staatsanwälte und Notare in einem Zeitraum von 10 Jahren schrittweise auf 65 Jahre und nicht mehr wie zuvor binnen eines Jahres auf 62 Jahre herabgesetzt werden. Die EU-Kommission war der Ansicht, dass dies dem allgemeinen Renteneintrittsalter von 65 Jahren entspricht und hat das Vertragsverletzungsverfahren eingestellt. Aus diesen Gründen ist dieses Mittel meiner Ansicht nach auf jeden Fall wirksam und schafft es, die massiven Angriffe auf die Verfassung zu beseitigen.

Viktor Orbán erklärte, dass er Polen im Falle eines Verfahrens nach Artikel 7 unterstützen würde. Das Verfahren muss einstimmig im Europäischen Rat beschlossen werden. Seitdem wird über die Möglichkeiten diskutiert, das Verfahren gegen die polnische und die ungarische Regierung gleichzeitig anzuwenden. Erlauben die EU-Verträge diese Option?

Eine solche Option ist in dem Art. 7 EUV nicht ausdrücklich geregelt. Man könnte zwar meinen, dass die Einleitung eines solchen Verfahrens gegen zwei Staaten gleichzeitig, mit dem Wortlaut nicht vereinbar ist, da Art. 7 Abs. 1 EUV von einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat spricht. Der Gesetzgeber ist aber wohl davon ausgegangen, dass ein solch schwerwiegender Verstoß nicht oft passieren wird und vor allem nicht in mehreren Staaten auf einmal. Einen ausdrücklichen Ausschluss dieser Option regeln jedoch weder Art. 7 selbst noch die EU-Verträge, so dass eine solche gemeinsame Verwendung von der Auslegung des Art. 7 EUV abhängen wird.

Was wären die Chancen und Risiken eines doppelten Verfahrens nach Artikel 7?

In dem Fall Polen und Ungarn ist ein doppeltes Verfahren nach Art. 7 die einzige Chance, um einen Erfolg zu erreichen. Viktor Orban hat seine Bereitschaft, Polen zu unterstützen, bereits angekündigt, deswegen macht die Einleitung der einzelnen Verfahren gegen die beiden Mitgliedstaaten keinen Sinn. Das Risiko besteht jedoch darin, dass der EU ein Handeln über den Wortlaut des Gesetzes hinaus und das Umgehen der Verträge, vorgeworfen werden kann. Außerdem besteht keine 100%ige Sicherheit, dass alle anderen Mitgliedstaaten einstimmig werden, sodass es zu einer weiteren Spaltung in Europa kommen könnte.

Eine gleichzeitige Anwendung von Artikel 7 gegen die Regierung Szydlo und Orbán setzt nach Absatz 2 (im Falle einer „schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung“ der europäischen Grundwerte) voraus, dass die anderen Regierungschefs geschlossen abstimmen. Davon sind viele mit Viktor Orbán gemeinsam in der Parteinfamilie der EVP. Wäre zu erwarten, dass diese einstimmig für den Artikel 7 stimmen?

Ich glaube, dass die Parteizugehörigkeit in diesem Fall keine Rolle spielen wird. Kanzlerin Angela Merkel gehört auch der EVP an, was jedoch nicht bedeutet, dass sie bei der Abstimmung im Rahmen dieses Verfahrens, an der Seite von Polen und Ungarn stehen wird. Zurzeit ist eine Einstimmigkeit eher zu erwarten. Keine anderen Mitgliedstaaten haben ihre Zustimmung für die Lage in Polen oder Ungarn ausgesprochen.

Eine 100%ige Sicherheit besteht aber natürlich nicht. Es kann auch passieren, dass ein oder mehrere Regierungschefs gegen die Feststellung einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung durch diese Mitgliedstaaten abstimmen werden. Das sollte jedoch die EU nicht davon abhalten, das Verfahren nach Art. 7 einzuleiten.

Bei der Anwendung von Artikel 7 muss neben der rechtlichen Möglichkeit auch der tatsächliche politische Nutzen abgewogen werden. Sollten rechtsstaatliche Standards wirklich durch äußeren Zwang eingefordert werden oder nutzt das nicht zuletzt den Regierungen in Polen und Ungarn, um sich als Opfer von Fremdbestimmung darzustellen?

Die rechtsstaatlichen Standards sind in den EU-Verträgen normiert und dessen Beachtung soll natürlich von den Mitgliedstaaten gewährleistet werden. Wer sich der EU anschließt, muss auch ihr Recht beachten. Aus politischer Perspektive erscheint es oft problematisch und wird von solchen Staaten wie Polen oder Ungarn als Eingriff in die Demokratie verstanden. Von einem äußeren Zwang kann man jedoch meiner Ansicht nach nicht sprechen.

Lesen Sie hier den Beitrag von Daniel Hegedüs zum gleichen Thema.

Durch das Unterschreiben der Beitrittserklärung, verspricht der jeweilige Staat das Recht der Union zu beachten und zu respektieren. Auch solche Werte wie Rechtsstaatlichkeit müssen in allen Mitgliedstaaten gleich und unbedingt beachtet werden, sodass man von einer einheitlichen Union sprechen darf. Polen und Ungarn werden sich sicherlich in einem solchen Fall als Opfer von Fremdbestimmung darstellen, dies sollte jedoch außer Betracht bleiben.

Sind diese Staaten mit den Werten der EU nicht einverstanden, können sie immer noch austreten.

Das Interview für Treffpunkteuropa.de führte Arthur Molt.

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