Beitrag zum EUD-Bürgerdialog „Europe in the Neighbourhood – Let’s talk beyond borders! The struggle for European Integration in the Western Balkans“ vom 21.06.2023.

Momentum für EU-Erweiterung? Perspektiven zur Aufnahme der Länder des Westbalkans in die EU

, von  Jasper Nebel, Katharina Egle

Momentum für EU-Erweiterung? Perspektiven zur Aufnahme der Länder des Westbalkans in die EU
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zusammen mit dem albanischen Präsidenten Edi Rama beim Westbalkan-Gipfel in Tirana im Dezember 2022. Foto: EU-Kommission / Dati Bendo / Lizenz Creative Commons Attribution 4.0 International

Wie hat der russische Angriffskrieg auf die Ukraine die Zukunftsaussichten für eine Aufnahme der Länder des Westbalkans in die Europäische Union verändert? Was sind die größten Hindernisse für die Erweiterung? Drei Experten für den Westbalkan haben diese Fragen mit dem Publikum im Bürgerdialog der Europa-Union Deutschland diskutiert.

Normalerweise war die EU-Erweiterung eines der Themen, das in Brüssel und den europäischen Hauptstädten ständig diskutiert wurde, ohne großartige Fortschritte zu erzielen. Doch seit Russlands Krieg gegen die Ukraine im Februar 2022 erfährt die EU-Erweiterungspolitik außergewöhnliche Aufmerksamkeit. Vor allem die Aufnahmeperspektive der Ukraine, Georgiens und Moldawiens rückte in den Fokus. Mit Blick auf Russlands aggressive Außenpolitik wurden geopolitische Überlegungen aber auch im Allgemeinen wieder wichtiger. Dies beeinflusst dementsprechend auch die Aufnahmeperspektive der Länder des Westbalkans.

Drei Westbalkan-Expert*innen diskutierten im Bürgerdialog der Europa-Union Deutschland (EUD) die Möglichkeiten, aber auch die Herausforderungen der Integration des Westbalkans in die Europäische Union. Manuel Sarrazin, der Sonderbeauftragte der deutschen Bundesregierung für die Länder des Westbalkans, Simonida Kacarska, Direktorin des European Policy Institute Skopje, und Harun Cero, Projektmanager bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Sarajevo beantworteten Fragen von Bürgern aus ganz Europa und insbesondere auch aus dem Westbalkan.

Auch in dieser Diskussion dominierte die Geopolitik. Sarrazin betonte, dass er hinsichtlich des Beitritts der Länder des Westbalkans optimistisch bleibe, da es kein anderes geopolitisches Instrument gebe, welches so einflussreich ist wie die Erweiterungspolitik der EU. „Wir haben derzeit kein gleich effektives Instrument, um unsere außenpolitischen Ziele in dieser Region zu erreichen“, sagte Sarrazin. Aus diesem Grund unterstütze die deutsche Regierung die Integration des Westbalkans und glaube weiterhin an die EU-Erweiterung, so Sarrazin.

Für Kacarska ist es wichtig, dass so viele optimistische Menschen wie möglich an diesem Projekt arbeiten: „Es ist unsere Verantwortung, optimistisch zu bleiben“. Aber es wurde deutlich, dass es nicht einfach ist, optimistisch zu sein. Länder wie Montenegro erhielten bereits 2010 den Kandidatenstatus und obwohl Montenegro einer der vielversprechenderen Fälle ist, scheint ein Beitritt vor 2025 nicht realistisch zu sein. Bei Ländern wie Serbien ist die Perspektive des EU-Beitritts noch unklarer. Harun Cero von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Sarajevo greift diesen Aspekt auf und verweist bei der Suche nach Erklärungen für den langsamen Integrationsprozess auf die Staatsoberhäupter der Westbalkan-Länder: „Die meisten Staatsoberhäupter in den Ländern des Westbalkans wollen den EU-Beitritt nicht wirklich“, sagt Cero. Oft würden sie den Willen zu einem Beitritt nur vortäuschen – aus strategischen Gründen. Letztendlich wäre der Beitritt aber nicht mit ihrer Politik vereinbar, die auf Korruption und Nepotismus basiere.

Ein albanischer Teilnehmer aus dem Publikum wies ebenso auf die mächtige korrupte Elite in den Ländern des Westbalkans hin, die den Integrationsprozess regelmäßig behindern würden, da sie einen Großteil ihrer Macht verlieren würde. Aber auch er bleibt zuversichtlich: Die im Rahmen des Beitrittsprozesses vorgesehenen justiziellen Reformen würden es erleichtern, einige der „großen Fische“, welche in halbkriminellen, oft grenzüberschreitenden Strukturen arbeiten, zu schnappen. Dennoch: unzureichende Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden auf dem Westbalkan erschwert die Strafverfolgung, ein Faktum, das auch Harun Cero bestätigte.

Dennoch lassen sich die Probleme nicht ausschließlich innerhalb der Länder des Westbalkans verorten. Cero betont, dass die EU stärker mit Akteur*innen in der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten und sich mit den realen Problemen in den Ländern auseinandersetzen sollte. Regelmäßig finden die Verhandlungen mit den Ländern des Westbalkans hinter verschlossenen Türen statt, ohne Beteiligung der Medien und der Zivilgesellschaft. „Die EU hat damit den einfacheren und pragmatischeren Weg gewählt“, sagt Cero. Simonida Kacarska fügt hinzu, dass die EU aufgrund ihres zögerlichen Vorgehens bei der Erweiterung, Raum für anti-europäische Akteure in den Ländern des Westbalkans schafft. „Das Beispiel Nordmazedoniens ist sehr anschaulich für andere Staaten. Das Land hat viel gegeben - sogar seinen offiziellen Namen geändert - aber die EU hat keine Reaktion gezeigt“, sagt Kacarska. Gegen den EU-Beitritt zu sein, wäre für diese Politiker*innen einfacher und würde mehr Stimmen gewinnen.

Die Bewertung des Status quo und die Analyse der Hauptprobleme wurden von den Expert*innen präzise dargelegt. Aber wie geht es weiter? Manuel Sarrazin von der Bundesregierung spricht von einer einzigartigen Chance in Folge des Krieges in der Ukraine: „Es gibt einen geopolitischen Schwung. Selbst in Frankreich und Deutschland könnte es gerade Unterstützung für den Beitritt der Länder des Westbalkans geben“, sagt Sarrazin. Er drängt auf schnelle und starke Entscheidungen im Erweiterungsprozess, um diesen Rückenwind richtig nutzen zu können. Harun Cero von der Friedrich-Ebert-Stiftung betont, dass die öffentliche Unterstützung für den EU-Beitritt nach wie vor robust sei, aber auch Enttäuschung innerhalb der Bevölkerung des Westbalkans weit verbreitet sei. Er bringt das Konzept des graduellen Beitritts ins Spiel. Ein Beitrittskandidat könnte zum Beispiel zunächst dem Europäischen Binnenmarkt beitreten, bevor er vollständig der Europäischen Union beitritt.

Laut Simonida Kacarska vom European Policy Institute sollte die Rolle der Zivilgesellschaft gestärkt werden. Die strategische Kommunikation der EU bietet noch viel Raum für Verbesserungen, und die Akteure aus der Zivilgesellschaft könnten „die bürokratische Sprache der EU entpacken und bei der Kommunikation unterstützen“. Im Verlauf der Diskussion wurde deutlich, dass sowohl die Expert*innen als auch das Publikum davon überzeugt waren, dass der Beitritt der Länder des Westbalkans immer noch lohnenswert ist und ein wesentliches Instrument zur Stärkung der regionalen Stabilität darstellt. Doch auch angesichts des aktuellen Konflikts im Kosovo, könnte es eine bloße Hoffnung bleiben, von der unklar ist, ob und wann sie sich erfüllt.

Dieser Beitrag ist im Rahmen einer Kooperation zwischen der Europa-Union Deutschland und treffpunkteuropa.de entstanden, in der wir über die bundesweite Bürgerdialogreihe „Europa? Wir müssen reden!“ berichten. Die Bürgerdialoge schaffen durch interaktive Formate den Rahmen, um auch abseits von Wahlen politische Beteiligung zu ermöglichen.

treffpunkteuropa.de ist Medienpartner der Reihe und erhält im Rahmen dieser Partnerschaft eine Aufwandsentschädigung. Die Inhalte der Berichterstattung sind davon nicht betroffen. treffpunkteuropa.de ist frei und allein verantwortlich für die inhaltliche und redaktionelle Gestaltung seiner Artikel.

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