Nach estnischem Vorbild: die digitale Revolution in der EU

, von  Alexandre Weber, übersetzt von Lydia Haupt

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Nach estnischem Vorbild: die digitale Revolution in der EU

Am 1. Juli übernahm Estland für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft. Das baltische Land ist ein Pionier in Sachen Digitalisierung, und hat sich vorgenommen, die digitale Transformation in der gesamten EU zu beschleunigen. Das freie und progressive Modell soll auf die anderen Mitgliedsstaaten ausgeweitet werden. Kann das funktionieren? Und was ist an den Vorschlägen wirklich revolutionär?

Ein Land mit Vorreiter-Rolle im digitalen Bereich

Auf den ersten Blick wirkt Estland nicht besonders aufsehenerregend. Das kleine Land, welches seit 2004 Mitglied der EU und seit 2011 Teil der Eurozone ist, zählt gerade einmal 1,3 Millionen Einwohner, und hatte 2016 ein Wirtschaftswachstum von 1,6%, verbunden mit einer Arbeitslosigkeit von 6,8%. Wenn man jedoch genauer hinschaut, fällt auf, dass Estland vor allem in den Sektoren Digitales und Umwelt deutlich besser abschneidet als viele andere Länder der EU und der Welt. Die digitalen Dienstleistungen, die das Land seinen Bürgern anbietet, sind weitreichend. Zu behaupten, dass man am estnischen Modell die nahe Zukunft der anderen EU-Länder erkennen kann, ist möglicherweise zu ehrgeizig. Aber es ist eine erfreuliche Vorstellung, eines Tages fast alle administrativen Fragen und täglichen Dienstleistungen genauso einfach und schnell regeln zu können, wie es in Estland bereits heute der Fall ist. Wer sich näher mit den Themen digitaler und ökologischer Wandel beschäftigt, bekommt Lust, daran teilzuhaben. Der Wandel in Estland ist umso erstaunlicher wenn man bedenkt, dass das Land vor weniger als 30 Jahren noch Teil der Sowjetunion war. Innerhalb kürzester Zeit gelang es, eine rein papierbasierte Verwaltung in eine vollständig digitalisierte Verwaltung umzuwandeln. Gleichzeitig wurde an der Dekontaminierung der Naturräume des Landes gearbeitet, die 45% des Territoriums ausmachen.

Der Grundstein des digitalen Systems Estlands ist der 2002 eingeführte elektronische Personalausweis (electronic ID card). Der Ausweis wird heute von 52% der Bevölkerung verwendet, und hat seit seiner Einführung zusätzliche Funktionen hinzugewonnen. Mittlerweile können die Esten mit der Karte ihre Stimme bei Wahlen abgeben, Steuern und Rechnungen online bezahlen, ihre Konto- und Gesundheitsdaten sowie die Schulnoten ihrer Kinder abrufen, ihre ärztlichen Verordnungen ansehen, und sogar Parkuhr-Gebühren begleichen. Die Karte ist der Mittler zwischen den estnischen Bürgern und dem digitalen System des Staates. Sie ist der Standard-Personalausweis, mit dem Bürger sich in EU-Staaten frei bewegen können, dient aber auch als Krankenversicherungskarte, Fahrausweis etc. Das Beste ist, dass die Bürger die Karte nicht einmal zur Hand haben müssen, um die Funktionen nutzen zu können. Sie brauchen dazu lediglich ihr Mobiltelefon. Anders gesagt: in Estland wurde sogar das Digitale digitalisiert.

Wie funktioniert das? Computer werden mit einem Kartenlesegerät bzw. einer entsprechenden Erweiterung (externer Anschluss) ausgestattet, mit dem man seinen elektronischen Ausweis ausliest. Anhand dessen kann man sich online identifizieren lassen, und hat Zugriff auf die vielfältigen Möglichkeiten, die der Ausweis bietet.

Digitale Dienstleistungen im Alltag : E-School, E-Police, E-Prescription, Digital Signature...

E-School: Die Digitalisierung hat in Estland auch vor den Schultoren nicht Halt gemacht. Das geht über die Nutzung von Tablets und Computern durch Schüler hinaus, vielmehr sind alle Beteiligten aktiv eingebunden. Lehrer und Betreuer tragen online Noten ein und geben Hausaufgaben auf, versenden Nachrichten an ihre Schüler oder deren Eltern und bewerten das Verhalten in ihren Klassen. Eltern haben Zugriff auf diese Informationen, und können so die Entwicklung ihrer Kinder nachverfolgen. Schüler können ihre Noten und ihre Hausaufgaben online einsehen, und verfügen über Speicherplatz für ihre Arbeiten und Projekte. Auch von der Kommunalverwaltung werden Daten erfasst, um über aktuelle Statistiken zu verfügen. Das Log-In-Verfahren ist mit der E-Card verknüpft. Der Zugang wird über ein spezielles Web-Portal vollzogen, ähnlich einem Intranet.

E-Police: Die Polizei verfügt dank Digitalisierung über spezifische Werkzeuge, um ihre Arbeit zu erleichtern und die Sicherheit der Esten, insbesondere auf den Straßen, zu verbessern. Eine spezielle Datenbank zur Überprüfung von Führerscheinen, Fahrzeug-Kennzeichen und vorherigen Verstößen eines Fahrers steht Polizisten im Dienst unmittelbar zur Verfügung. Verhaftungen und Routineüberprüfungen können so schneller vollzogen werden. Darüber hinaus arbeitet das Land daran, ein modernes digitales Abwehrsystem zu entwickeln, um sämtliche Transaktionen und privaten Informationen seiner Bürger zu schützen und potenzielle Cyber-Attacken, die das Land gefährden könnten, zu verhindern. Diese Lehre wurde aus einem russischen Angriff 2007 gezogen. Die Hauptstadt Tallinn beherbergt auch ein NATO-Cyberverteidigungszentrum.

E-Prescription: Dank der Digitalisierung gehören ärztliche Rezepte auf Papier der Vergangenheit an, ebenso wie Wartezeiten in der Apotheke oder bei der Verschreibung von Medikamenten beim Arzt. Ergebnisse medizinischer Untersuchungen, Informationen zum aktuellen Gesundheitsstand, Rezepte, anstehende Termine ... all das können die Esten im Internet einsehen. Das Ganze funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie die E-School, in Verbindung mit dem elektronischen Ausweis, und es erhöht die Effizienz für alle Beteiligten. In diesem Fall ist es nicht nur vorteilhaft für Patienten, sondern auch für Ärzte, die Rezeptverlängerungen verwalten können, ohne dass ihre Patienten in die Praxis kommen müssen, um ein Papier auszufüllen. Sobald der Antrag akzeptiert wird, muss die Apotheke nur die elektronische Karte des Patienten scannen, um zu wissen, welche Medikamente er braucht. Die Doktor-Patient-Apotheker-Beziehung verlief noch nie so reibungslos.

Diese Beispiele sind nur ein kleiner Teil dessen, was anhand des digitalen Systems möglich ist. Rechnungen einschließlich Steuern bezahlen, Verträge mit ausländischen Partnern elektronisch unterzeichnen, sich juristisch beraten lassen, Beschwerden einreichen und vieles mehr. Auch die Stimmabgabe bei Wahlen kann online durchgeführt werden, aber diesem Thema müsste man einen ganz eigenen Artikel widmen.

Die estnische Bevölkerung wurde frühzeitig für das Thema Digitalisierung sensibilisiert. Der Versuch, ein so umfassendes und vielseitiges System in Deutschland einzuführen würde vermutlich nicht bei allen Beteiligten auf Begeisterung stoßen. Es ist daher umso wichtiger, solche Innovationen zu thematisieren, und das Potenzial digitaler Verwaltung publik zu machen. In vielen Ländern ist die Verwaltung für einiges bekannt, aber nicht für ihre Effizienz. Dabei sind die Möglichkeiten für Vereinfachung im Alltag der Bürger, aber auch für den Umweltschutz, enorm. Im deutschen Wahlkampf spielt Digitalisierung kaum eine Rolle. Noch ist offen, wie man die Bevölkerung in Deutschland für das Thema gewinnen kann. Es gibt in diesem Bereich einiges zu tun, aber es ist schon viel gewonnen, wenn man sich auf das konzentriert, was möglich ist. Zunächst muss mit einigen Vorurteilen gebrochen werden. Digitalisierung zerstört nicht zwangsläufig Arbeitsplätze, sondern hat das Potenzial, welche zu schaffen. In Estland arbeiten 30% der Bevölkerung in der Digital-Branche. Unter anderem wird die Gründung von Unternehmen und Start-Ups vereinfacht.

Wie steht es mit der Cyber-Sicherheit?

Ist die digitale Welt wirklich sicher? Die Aussicht auf eine zentrale Datenerfassung in Europa ist für viele erschreckend. Ein Cybersecurity-Spezialist, ausgesprochener Kritiker des Digitalen, teilt im Folgenden seine Ansichten zum Thema Cyber-Sicherheit und Risiken. Auf eigenen Wunsch hin bleibt er anonym.

„Cybersecurity besteht darin, eine oder mehre Firewalls zu bauen, um Datenbanken, interne Netzwerke oder Business-Systeme zu schützen. In der Theorie funktioniert das gut. In der Praxis hingegen wird es immer eine oder mehrere Möglichkeiten geben, die Sicherheitsvorkehrungen zu umgehen, unabhängig davon, wie viele Firewalls eingerichtet wurden. Die Technik, zahlreiche Firewalls miteinander zu kombinieren, ist teils sogar kontraproduktiv, weil dadurch neue Fehler an den Verbindungspunkten entstehen. Eine Kette ist nie stärker als ihr schwächstes Glied und für Firewalls ist es noch schlimmer. Darüber hinaus reicht es, wie auch immer das Sicherheitssystem gestaltet ist, dass eine Person ein Mal aus Versehen eine Sicherheitslücke findet und sie ist drin. Einmal in der Datenbank, gibt es keine Lösung, um den Eindringling loszuwerden, außer der vollständigen Löschung der Daten. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass wir im Bereich der Cyber-Sicherheit eine Million Angriffe abwehren können, aber wenn der Angriff Nummer 1 000 001 die Verteidigung passiert, war alles umsonst. Die Idee der aktuellen Arbeitsteilung ist, dass die Regierung, abgesehen von systematischen und konzertierten Aktionen, keinen Zugang zu privaten Informationen hat. Wenn wir alles zentralisieren, kann eine einzige Person Zugang zum gesamten Leben aller Bürger haben. Das ist beängstigend, ein Big Brother 2.0.„Geht diese Beschreibung zu weit? Ist die Sicherheit von Informationssystemen so gering, so leicht zu umgehen? Am 15. Juli hat Estland beschlossen seine sicheren Server nach Luxemburg auszulagern, in die erste“E-Botschaft". Diese Entscheidung bietet eine Antwort auf drängende Sicherheitsfragen, denn Luxemburg verfügt über den sogenannten „Tier 4“-Standard, bei weitem die höchste Sicherheitsstufe für Server. Das System wurde entworfen, um externen Angriffe zusätzlich zu Ausfällen und anderen Gefahren zu widerstehen.

Wann zieht der Rest der EU nach?

Estland hat deutlich gemacht, dass die digitale Revolution eines seiner Ziele für die EU-Ratspräsidentschaft ist. Am Handlungsspielraum des Landes kann man auch hier zweifeln, oder vielmehr am Einfluss, den der kleine Staat auf EU-Richtlinien haben kann. Die maltesische Präsidentschaft hat kaum zu Ergebnissen geführt. Doch Estland scheint das Mandat ernst zu nehmen. Es wird nicht müde, die Vorteile der Digitalisierung zu betonen, und engagiert sich auch für ein Europa der Verteidigung. So wird zum Beispiel ein Datenaustausch zwischen den europäischen Agenturen vorgeschlagen, um über eine gemeinsame Datenbank zur Verteidigung gegen Terrorismus und Cyberterrorismus zu verfügen. Der Regierungsberater für Digitales, Valdek Laur, weist auch auf die Probleme hin, die ein Mangel an digitaler Infrastruktur für Unternehmer verursacht:„Wir wollen, dass die Grundsätze des offenen Binnenmarktes auf die digitale Welt ausgedehnt werden, aber dafür ist es notwendig, dass die Mitgliedstaaten einverstanden sind. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Wenn ein Buchhaltungsunternehmen Online-Dienste in einem anderen Mitgliedsland anbieten möchte, kommt es zu Schwierigkeiten. Viele Staaten verlangen, dass sich die Buchhaltungsunterlagen im Hoheitsgebiet des betreffenden Landes befinden. Der Unternehmer muss dann seinen Domainnamen in den Ländern registrieren, in denen er aktiv werden möchte - die Verwendung des .eu-Domainnamens ist nicht ausreichend. Für junge Start-ups ist das teuer und bremst ihre Aktivitäten im europäischen Wirtschaftsraum.“

Hier erkennt man die Bedeutung des Projekts, und vielleicht kann es gelingen, die Entwicklung der Union in diesem Sektor zu beschleunigen. Man sollte nicht vergessen, dass sich in Europa viele talentierte Unternehmer verstecken, Skype beispielsweise kommt aus Estland. Die EU sollte ihre Entwicklung erleichtern und Ambitionen fördern. Was die Union dabei behindern könnte ist die Sicherheitsdimension, die eine solche Verpflichtung impliziert. Wie der estnische Ministerpräsident Juri Ratas betont, „ist die Freizügigkeit der Daten eine notwendige Voraussetzung für den gemeinsamen digitalen Binnenmarkt. […] Wir müssen das Vertrauen und die Sicherheit verbessern. Deshalb müssen wir uns auch auf Fragen der Cybersicherheit konzentrieren."

Wie sieht es in Deutschland aus? In Umwelt- und Technologiefragen gehört das Land oft zu den Vorreitern, im digitalen Bereich aber könnte es zu deutlichen Verzögerungen kommen, wenn es sich die nächste Regierung nicht stärker zur Aufgabe macht, die Bevölkerung für das Thema zu sensibilisieren und notwendige Maßnahmen zu ergreifen. Der neue französische Präsident machte es vor und kündigte in einer Rede am 4. Juli an, den Übergang hin zu einer digitalen Verwaltung beschleunigen zu wollen. Bis 2022 sollen fast alle öffentlichen Dienstleistungen online abgewickelt werden können, ähnlich wie in Estland. Bleibt zu hoffen, dass die Ziele eingehalten werden.

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