Ukraine: „Wir brauchen keinen guten Zaren, wir brauchen ein effektives Politikmodell“

, von  Arthur Molt

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Ukraine: „Wir brauchen keinen guten Zaren, wir brauchen ein effektives Politikmodell“
Bei einer Demonstration vor dem ukrainischen Parlament kam es während der Abstimmung über eine Verfassungsreform zu einem Gewaltausbruch mit drei Toten. © Martin Schulz / Flickr/ CC BY-NC-ND 2.0-Lizenz

Die Ukraine steht unter Schock, nachdem gewalttätige Ausschreitungen in Kiew die Abstimmung über eine Verfassungsreform überschatteten. Drei Menschen wurden getötet, Hunderte verletzt, als eine Granate vor dem Parlament explodierte. Die Proteste richteten sich gegen eine Dezentralisierung der Ukraine, die vermeintlich die Abspaltung der von pro-russischen Separatisten besetzten Gebiete Donezk und Lugansk zementieren würde. Doch was steht bei der Verfassungsreform in der Ukraine wirklich auf dem Spiel? Wie reagieren russische Medien auf die Krawalle in Kiew? Ist die Dezentralisierung ein Schritt in Richtung eines europäischen Regierungsmodells? treffpunkteuropa.de hat den ukrainischen Politikwissenschaftler Maksym Folomieiev dazu befragt.

Arthur Molt für treffpunkteuropa.de: Was sind die wichtigsten Veränderungen, die die Reform zur Dezentralisierung mit sich bringen wird?

Maksym Folomieiev: Das ukrainische administrative System funktioniert immer noch in weiten Teilen wie zu Sowjetzeiten. Es ist sehr ineffizient, weil es keine Regelung für die Selbstverwaltung gibt. Die Verfassungsänderung wirkt sich vor allem auf die finanziellen Mittel der Regionen aus. Wir haben immer noch ein sehr zentralisiertes Modell, wenn es um öffentliche Gelder geht. Die Hauptstadt Kiew entscheidet über die Budgetvergabe. Und es gibt Zweifel an der korrekten Verwendung dieses Geldes.

Die Bürger beschuldigen die Regierung der Korruption?

Ja, teilweise tun sie das.

Der Kampf gegen Korruption war eine Forderung des Euro-Maidan. Warum dann der Protest gegen eine Dezentralisierung?

Die Dezentralisierung gehörte nicht zu den Hauptforderungen des Euro-Maidan. Für Sachverständige war es ein wichtiger Aspekt, aber nicht für die breite Öffentlichkeit. Im Vordergrund standen die Korruption und die zukünftige außenpolitische Orientierung der Ukraine. Die Dezentralisierung ist ein Konzept, das den Menschen erst noch erklärt werden muss.

Ist es Präsident Poroschenko misslungen, seine Reform zu erklären?

Das Problem ist, dass die Leute Dezentralisierung mit Föderalisierung gleichsetzen. Sie denken, dass die Reform einen Sonderstatus für die von Rebellen besetzten Gebiete im Donbass gewähren wird. Das Ziel der Reform war vielleicht nicht gut genug erklärt.

Die Verfassungsänderung erhielt bereits grünes Licht durch das Verfassungsgericht und bekam nun eine klare Mehrheit im Parlament. Wie erklären sie den plötzlichen Gewaltausbruch in Kiew?

Am Montag sahen wir nur die erste Lesung im Parlament. Die Diskussion wird noch weitergehen. Und wir sollten nicht vergessen, dass es eher eine kleine Gruppe von Radikalen ist, die Gewalt eingesetzt hat. Es ist gefährlich, ein ganzes Land aufgrund des Verhaltens eines Mannes zu verurteilen, der eine Granate auf Sicherheitskräfte geworfen hat.

Glauben Sie, dass die Regierung stärker auf Radikale, die sich selbst ukrainische Patrioten nennen, achten muss?

In Kriegszeiten gibt es eine Menge Leute, die enttäuscht sind und alles auf einen Schlag entscheiden wollen. Es gibt eine Reihe von Kompromissen, die manchmal schwer zu akzeptieren sind.

Ich verstehe, aber wie wollen Sie mit Menschen umgehen, die nicht bereit sind, politische Kompromisse zu akzeptieren und Gewalt einsetzen?

Wenn es nur um politische Fragen ginge, könnten wir sie leichter zu diskutieren. Aber jetzt haben wir eine Menge Opfer des Krieges im Osten. Und unter diesen Umständen ist es schwierig, politische Verfahren zu moderieren.

In Artikel 18 der Übergangsbestimmungen der Verfassungsänderung heißt es, dass die lokale Regierungsführung in gewissen Landkreisen in Donezk und Lugansk in einem gesonderten Gesetz festgelegt werden soll. Ist das ein Schlupfloch für Separatismus?

In Lugansk und Donezk gibt es momentan keine gewählten Regierungen, sodass die Selbstverwaltungsreform nicht für sie gilt. Gemäß der Minsk-Abkommen muss es zunächst ein Ende der Kampfhandlungen, eine Kontrolle der Grenzen und freie Wahlen unter ukrainischem Recht geben. Nur dann können wir über die Umsetzung dieser Änderung in dem Gebiet sprechen, das derzeit unter Kontrolle der Rebellen steht.

Teile der ukrainischen Opposition sehen diese Reform als Risiko für weiteren Separatismus. Was entgegnen Sie darauf?

Das ist zu dramatisch. Die lokalen Behörden erhalten nur wirtschaftliche Macht. Ihnen wird keine politische oder legislative Macht gewährt. Abgesehen davon hat der Präsident die Befugnis, Handlungen zu stoppen, die gegen die Verfassung und die territoriale Integrität des Landes laufen.

Pro-russische Aktivisten behaupten, dass die Ukraine von radikalen „Faschisten“ bedroht sei. Wie beeinflusst der Angriff am Montag diese Diskussion?

In den sozialen Netzwerken kursiert der Witz, dass Präsident Putin nach den Ereignissen eine Flasche Champagner öffnen kann. Aufgrund einer Person werden russische Medien nun verbreiten, die Ukraine stehe unter Kontrolle von Radikalen. Jetzt haben wir Bilder für das Propaganda-Fernsehen.

Ihr Wohnort Charkiw erlebte schon Auseinandersetzungen zwischen pro-russischen Kräften und Euro-Maidan-Demonstranten. Ist es wahrscheinlich, dass diese Spannungen wieder aufbrechen?

Wir wissen um die Bedrohung durch gewalttätige Angriffe in Charkiw. Es war ein Bombenanschlag durch Anti-Maidan Demonstranten, bei dem im Februar dieses Jahres drei Menschen getötet wurden. Einer von ihnen war der Koordinator des Euro-Maidan in Charkiw. Wir sind nur 56 Kilometer von der russischen Grenze entfernt.

Europäische Berater wie die Venedig-Kommission heißen die ukrainischen Reformen gut. Ist die Dezentralisierung ein Weg, um ein europäisches Regierungsmodell zu etablieren?

Dezentralisierung kann als ein Weg nach Europa gesehen werden. Aber Föderalisierung auf der anderen Seite wird zum Zerfall der Ukraine führen. Das ist die Idee, die Russland fördert. Das sowjetische Modell war ein Modell einer Machtvertikale: alle Parteifunktionäre waren unter dem Kreml. Wir sind jetzt näher an einem normalen europäischen Modell, wo lokale Ebenen Probleme vor Ort lösen. Wir brauchen nicht einen guten Zaren, wir brauchen ein effektives Politikmodell.

Das Interview führte Arthur Molt.

Maksym Folomieiev ist Associate Professor an der staatlichen Karazin Universität im ukrainischen Charkiw.

Er promovierte in Politikwissenschaft und arbeitet für die Fachbereiche Angewandte Soziologie sowie Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Karazin Universität. Seine Heimatstadt liegt im Bezirk Donezk. {} {}

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