Ein Gastbeitrag der JEBz, Onlinezeitschrift der JEB.
Etwas ist anders am „Roman eines Schicksallosen“. Es ist die Geschichte eines durchaus normalen Jungen namens György (sprich: Djerd). Dieser ist 15 Jahre alt, geht zur Schule und ist zum ersten Mal verliebt. Und er ist Jude. Eines Tages, ein knappes Jahr vor Ende des Zweiten Weltkrieges, wird er auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle außerhalb von Budapest deportiert. Es gibt keine Zeit, den Eltern Bescheid zu geben; Am selben Tag noch befindet er sich mit vielen anderen im Zug nach Auschwitz. Von dort aus wird er in die Lager von Zeitz und Buchenwald transportiert. Er begegnet dem, was aus vielen Augenzeugenberichten bekannt ist: Zwangsarbeit, Hunger, Läuse, Krankheiten, Tod.
Der Junge versucht mit seinem kaum vorgeprägten Weltbild nachzuvollziehen, was mit ihm geschieht und kämpft dabei gegen sein auferlegtes Schicksal an. Er macht das Konzentrationslager zu seinem neuen Zuhause, lebt einen Alltag, in dem das Schlechte nicht dominiert. Er berichtet vom hübschen Bahnhof in Auschwitz, von der frischen Luft und der schönen Landschaft in Buchenwald. Er besteht darauf, dass es in den Lagern auch das Gute gegeben habe und schlussfolgert: „Es gibt keine Absurdität, die man nicht ganz natürlich leben würde.“
Kann der Holocaust Werte schaffen?
Hierin liegt das Schockierende, das der Publikation des Buches erhebliche Schwierigkeiten bereitete. Bereits 1975 als „Schicksalslosigkeit“ (ungar.: Sorstalanság) in Ungarn erschienen, kam es erst 1985 im Zuge politischer Veränderungen zu einer Neuauflage und somit zu breiter öffentlicher Würdigung. 1990 erschien es erstmals in deutscher Sprache unter dem Titel „Mensch ohne Schicksal“, 1996 schließlich als „Roman eines Schicksallosen“. Das Buch ist tatsächlich schwere Kost für alle, die den Holocaust als barbarische Ausnahme verteufeln und dies im Geschichtsunterricht auch so vermitteln wollen. So etwas darf sich nicht wiederholen lautet die Devise – und leistet dem Vergessen möglicherweise mehr Vorschub als allen Pädagogen lieb ist.
Kertész war nicht nur als Romanschreiber tätig. In mehreren Ausgaben werden seine Reden und Essays gesammelt. Eine seiner bekannteren Reden hielt er 1992 in Wien: Der Holocaust als Kultur. Darin plädiert er dafür, den Holocaust nicht durch eine Dokumentationsflut zu verdrängen. Eine vitale Auseinandersetzung mit dem Thema könne „das von Krisen geschüttelte europäische Bewusstsein befruchten“ und darüber hinaus zu einer Katharsis, einer Läuterung führen:
„Der Holocaust ist ein Wert, weil er über unermessliches Leid zu unermesslichem Wissen geführt hat und damit eine unermessliche moralische Reserve birgt.“
Literatur als Ausdrucksmittel
Aus welchen künstlerisch-intellektuellen Quellen Kertész schöpft, zeigt sein Galeerentagebuch. Für Laien kaum verständlich reflektiert er darin was das Leben ausmacht, was das Schicksal ist, und welche Funktionen Kunst und Literatur haben. Er erwähnt Marcel Proust und Die Bibel, zitiert Albert Camus und Franz Kafka, redet von der Technik der dodekaphonen Musik und entwirft eine atonale Romankomposition. Darin konzipiert er aber auch weitere Romane und kommt immer wieder auf das eine Thema zurück:
„Auschwitz, ach ja! Darin kommt alles zusammen, was für ein gutes Buch notwendig ist.“
Selbst sein 2003 erschienener Roman Liquidation, in dem es nicht in erster Linie um den Holocaust geht, kann als Analogie zur Auschwitz-Erfahrung gelesen werden. Das Buch spielt im kommunistischen Ungarn, dessen System die Literatur prüft und zensiert. Ein Verlagslektor soll das gefährliche Manuskript eines verstorbenen Freundes auffinden und veröffentlichen. Kertész schafft durch mehrere erzählerische Ebenen – die historisch-faktischen Hintergründe, Kommentare des Erzählers, Rückblenden des Protagonisten und das Manuskript selbst – eine Distanz, die die Literatur als Ausdrucksmittel fragwürdig erscheinen lässt. Zum Schluss fragt eine Figur: „Was weißt du von Auschwitz?“ und erhält als Antwort: „Alles, was darüber zu lesen ist. Und trotzdem weiß ich nichts davon. So wie du auch nichts davon wissen kannst.“
„Meine strikte Privatangelegenheit, das Schreiben“
Im Jahre 2002 wurde Imre Kertész als bisher einzigem ungarischem Schriftsteller der Literaturnobelpreis verliehen. Begründet wurde dies damit, dass seine Werke die zerbrechliche Erfahrung eines Individuums gegen die barbarische Zufälligkeit der Geschichte aufrechterhielten.
In seiner Rede vor der Schwedischen Akademie betonte er, dass das Schreiben seine strikte Privatangelegenheit sei. Er sei sich bewusst, dass sein immer wiederkehrendes Hauptthema unzeitgemäß und nicht attraktiv sei. Dennoch legt er dar, warum es für ihn ein stets aktuelles Thema ist:
„Das Problem Auschwitz besteht nicht darin, ob wir sozusagen einen Schlußstrich darunter ziehen oder nicht; ob wir es im Gedächtnis bewahren sollten oder in der entsprechenden Schublade der Geschichte versenken; ob wir für die Millionen von Ermordeten Mahnmale errichten und wie sie beschaffen sein sollten. Das wirkliche Problem Auschwitz besteht darin, daß es geschehen ist und daß wir an dieser Tatsache mit dem besten, aber auch mit dem schlechtesten Willen nichts ändern können.“
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Imre Kertész wurde 1929 in Budapest geboren und lebt mittlerweile in Berlin. Außer dem Literaturnobelpreis wurde sein Werk durch weitere bedeutende Literaturpreise gewürdigt.
Auf Deutsch sind unter anderem erschienen:
Galeerentagebuch, 1993 Roman eines Schicksallosen, 1996 Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt. Essays, 1999 „Heureka!“ Rede zum Nobelpreis, 2002 Liquidation, 2003
1. Am 12. April 2011 um 09:14, von Christoph Als Antwort Der Holocaust als gemeinsame europäische Erfahrung
„Eine vitale Auseinandersetzung mit dem Thema könne „das von Krisen geschüttelte europäische Bewusstsein befruchten“ und darüber hinaus zu einer Katharsis, einer Läuterung führen:“Der Holocaust ist ein Wert, weil er über unermessliches Leid zu unermesslichem Wissen geführt hat und damit eine unermessliche moralische Reserve birgt.„“
Aber wo liegt hier das spezifisch Europäische? Warum soll der Holocaust denn nun ein europäisches Ereignis gewesen sein? Also ich meine; die Shoa, die Vernichtung der Juden, Sinti, Roma, Schwulen, Polen, Russen und viele mehr, werden doch in jedem Land in anderer Weise wahrgenommen, aufgearbeitet und instrumentalisiert. Der Umgang mit und die damit verbundene moralische Reserve von Geschichte, ist in meinen Augen noch viel zu sehr in der Nationalstaatlichkeit verwurzelt und dieser Artikel bringt in meinen Augen kein einziges Argument, warum das anders sein sollte, weshalb es sich hier um ein europäisches Ereignis mit moralischer Reserve für ganz Europa handeln könnte.
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