Die Durchgangsstation für den „menschlichen Tsunami“

Italien wird von Migranten überrollt! Oder etwa doch nicht? Ein Besuch im Grenzort Ventimiglia.

, von  Tobias Sauer

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Die Durchgangsstation für den „menschlichen Tsunami“
Italienischer Grenzort Ventimiglia: „Die Migranten? Die sind sehr schüchtern und stören nicht.“ Photo © Tobias Sauer

Eigentlich will fast niemand nach Ventimiglia reisen. Die Stadt hat 25.000-Einwohner, liegt an der italienischen Riviera und steht im Schatten von wesentlich prominenterer Badeorte wie San Remo und St. Tropez. Und doch ist Ventimiglia in die Schlagzeilen geraten, weil zu viele Menschen hierhin fuhren. Zu viele Menschen, die schon länger unterwegs waren und noch weiter wollen: Migranten, meist aus Nordafrika, auf der Durchreise nach Frankreich, wo viele von ihnen Verwandte haben.

Ventimiglia, das ist die letzte italienische Stadt vor der französischen Grenze. Und da Alpen und Mittelmeer andere Wege versperren, müssen Reisende den Ort passieren: Die Autobahn von Marseille nach Genua führt an Ventimiglia vorbei. Vom kleinen Bahnhof fahren Züge in illustre Städte, nach Cannes und Nizza und einige Fernzüge gehen bis nach Mailand. Abends, um 23.15 Uhr, kommt sogar ein Zug aus Rom. Es ist dieser Zug, der nach Ansicht mancher zum Problem geworden ist. Denn mit ihm kommen die Migranten.


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Panikmache schadete der Stadt

„Jetzt gerade im Moment sind nur relativ wenige Migranten hier, aber in den Wochen um Ostern war der Bahnhofsvorplatz voll“, erzählt der Inhaber eines Zeitungsladens direkt im Bahnhof. Obwohl die meisten Migranten nach Frankreich weiterreisen würden, sei die Situation für die Stadt und deren Ruf „ein Desaster“, meint er. Denn die Krise habe Auswirkungen auf den Tourismus: „Es kommen einfach weniger Italiener hierher.“ Die Zahl der Migranten in Ventimiglia sei direkt mit der Zahl der Neuankömmlinge in Lampedusa verknüpft. Zudem beklagt er sich über die Berichterstattung: „Die Medien waren auch Teil des Problems und haben teils sehr drastisch übertrieben.“ Auch deshalb sind viele Einwohner in Ventimiglia nicht bereit, den Medien gegenüber ihren Namen zu nennen.

Berlusconi bezeichnete Migranten als „menschlichen Tsunami“

Nicht nur auf Geschäftsleute am Bahnhof von Ventimiglia hat die Flüchtlingswelle Eindruck gemacht. Auch die italienische Regierung sah sich mit den Migranten, die im Laufe der Revolutionen in Nordafrika im Frühjahr flohen oder von den dortigen Behörden nicht mehr an einer Flucht gehindert wurden, schnell überfordert. Ministerpräsident Silvio Berlusconi erklärte die Flüchtlinge unmittelbar nach dem Erdbeben in Japan mit wenig Feingespür zu einem „menschlichen Tsunami“, zu einer Naturkatastrophe also. Außenminister Franco Frattini warnte vor einem „Exodus biblischen Ausmaßes“.

Gegen den Willen der europäischen Partner stellte Italien den Flüchtlingen temporäre Aufenthaltsgenehmigungen aus, die sie auch zur Ausreise aus Italien berechtigten. Die Lage eskalierte schnell: Frankreich führte Grenzkontrollen ein und schloss für wenige Stunden gar die Schienenverbindung zwischen Ventimiglia und dem französischen Nachbarort Menton, was in Italien zu einem Aufschrei der Empörung führte.

Zugleich verlangte die italienische Regierung von anderen europäischen Ländern „Solidarität“ und meinte damit vor allem die Verteilung der Flüchtlinge in Europa. Schließlich habe sich die Zahl der Migranten vervielfacht. Während im Jahr 2010 an den italienischen Küsten 159 Boote mit insgesamt 4.406 Migranten ankamen, waren es allein in den ersten fünf Monaten des Jahres 2011 bereits 507 Boote mit 42.807 Migranten, wie Sonia Viale, Unterstaatssekretärin im römischen Innenministerium, mitteilte. Trotz des Anstiegs der Migration stieß das italienischen Ansinnen in Nordeuropa auf harsche Ablehnung: Der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich erklärte gegenüber der Welt: „Italien muss sein Flüchtlingsproblem selbst regeln“.

Italien wird nicht wirklich von Migranten überrannt

Ob Italien wirklich mit der Flüchtlingssituation überfordert ist, wird auch im Land selbst kritisch diskutiert. In Bologna, der Hauptstadt der Region Emilia-Romagna, etwa 300 Kilometer östlich von Ventimiglia, leitet Anna Rosa Rossi von der Gewerkschaft CGIL das Büro für Flüchtlinge. Sie und ihre Mitarbeiter helfen bei Problemen und bei Behördengängen. Der Warteraum vor den kleinen Büros ist vollgestellt mit Holzstühlen, viele der Wartenden kommen aus Nordafrika, einige aus Südosteuropa und Ostasien. Die meisten sind junge Männer, einige Frauen haben Kinderwagen dabei, ältere Menschen fehlen fast komplett. Informationen liegen aus in vielen verschiedenen Sprachen, darunter chinesisch, urdu und russisch. Und natürlich arabisch.

„Wir haben einen außergewöhnlichen Zustand“, erklärt die resolute Gewerkschafterin. Aber gibt es auch einen Notstand? „Nein“, antwortet sie bestimmt. Und rasselt Zahlen herunter: In Italien leben weniger Flüchtlinge als in anderen europäischen Ländern: Etwa 55.000, das entspricht etwa einem Flüchtling pro 1000 Einwohner. In Frankreich lebten indes drei Flüchtlinge pro 1000 Einwohner, in Großbritannien fünf und in Deutschland sieben. „Warum sollte Deutschland also die Einwanderer aufnehmen? Der Anteil der Flüchtlinge in Italien ist viel geringer als in anderen Ländern.“ Und in der Vergangenheit seien auch in Italien schon wesentlich mehr Flüchtlinge angekommen, ohne dass gleich ein Notstand ausgerufen wurde.

„Es gibt absolut keinen menschlichen Tsunami“, sagt Anna Rosa Rossi. Die Äußerungen der italienischen Regierung haben ihrer Meinung nach einen ganz anderen Grund: Wahlkampf. „Die Invasion der Fremden – das klingt wie die“Invasion der Heuschrecken„im Alten Testament.“ Berlusconi und sein Koalitionspartner, die rechtspopulistische Lega Nord, nutzten das, um sich auf dem Rücken der Migranten als Hardliner zu präsentieren. „Die Politik der Angst vor Immigration, vor dem terroristischen Migranten zum Beispiel, hat enormen Erfolg in Italien“, meint Anna Rosa Rossi.

Europäische Staaten sehr zerstritten

Der Streit zwischen Italien und Frankreich über die Grenzkontrollen sei auch eine Folge rechtspopulistischer Politik in beiden Ländern, meint die linke Gewerkschafterin. Zwar würden die temporären Aufenthaltsgenehmigungen die Migranten berechtigen, nach Frankreich zu reisen. Aber anschließend fordere Frankreich von ihnen den Nachweis, dass sie sich selbst versorgen können. Können sie diesen Nachweis in Form ausreichender finanzieller Mittel nicht erbringen, müssten sie das Land wieder verlassen und würden nach Italien abgeschoben.

Ganz ähnlich, nur in umgekehrter Richtung, habe ein Jahr zuvor Italien gehandelt. „Vor einem Jahr, als es in Frankreich einen Migrations-Notstand gab, hat sich Italien verweigert.“ Aus diesem Grund sieht sie die italienischen Rufe nach europäischer Solidarität kritisch. Denn Solidarität sei keine Einbahnstraße. Wenn alle Länder nur versuchten, die Migranten abzuschieben und anderswo unterzubringen, ließen sich kaum Kompromisse erzielen. „Kooperation kommt, wenn du deinen Teil erledigst.“ Denn Migration lasse sich ohnehin nicht durch schärfere Gesetze stoppen, zumal viele der Migranten aufgrund wirtschaftlicher Not oder Gewalt in ihren Heimatländern um ihr Leben gefürchtet hätten. Für einen nachhaltigeren Umgang mit der Migration brauche es deshalb nicht mehr Grenzkontrollen und mehr Abschiebecenter, sondern mehr ernsthafte Integrationsangebote, wie etwa Sprachkurse.

Und auch die Italiener fühlen sich keineswegs alle von den Migranten überrannt. Nicht einmal alle Bewohner Ventimiglias. „Die Migranten? Die sind sehr schüchtern und stören nicht. Die bleiben ohnehin meist in Bahnhofsnähe. Man merkt kaum etwas von ihnen“, sagt eine Mitarbeiterin in einem Café, scheinbar ohne zu bemerken, dass ihr Arbeitsplatz selbst nur wenige hundert Meter vom Bahnhof entfernt liegt.

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