Alte Verfassung sozialistisch?
Die bisherige, und noch bis Ende des Jahres gültige, Verfassung wird von der Regierungspartei Fidesz als Überbleibsel des Sozialismus bezeichnet. Tatsächlich datiert die Verfassung aus dem Jahr 1949. Allerdings – und dieser Punkt wird seitens der Regierung nicht akzeptiert – gab es 1989 eine grundlegende Verfassungsreform. Der einzige Satz, welcher aus der Verfassung von 1949 übernommen wurde, ist: „Ungarns Hauptstadt ist Budapest“. Ansonsten sorgte auch die damalige noch junge Opposition dafür, dass alle demokratischen Grundwerte Eingang fanden in die neue Verfassung. Viktor Orbán war damals bereits Vorsitzender des Fidesz (zuerst ein Studentenverband, keine Partei) und somit an der Ausarbeitung der 89er Verfassung aktiv beteiligt.
Die neue Verfassung in der Kritik
Die nun verabschiedete Verfassung – die Regierung spricht vom „alaptörvény“ (Grundgesetz) – lässt Rechtswissenschaftler schaudern. Als erster und wohl auf lange Sicht schwerwiegendster Kritikpunkt sei die Präambel genannt. Wo in anderen Verfassungen Staatsziele formuliert und für die spätere Auslegung durch das Verfassungsgericht Interpretationshilfen implementiert werden, spricht das „nemzeti hítvallás“ (Nationales Glaubensbekenntnis) von der tausendjährigen Verfassungstradition der ungarischen Geschichte und der Heiligen Krone als identitätsstiftendem Element. Die ungarische Heilige Krone ist eine weltweite Einzigartigkeit. Während in anderen Monarchien die Krone ein Symbol der Macht ist, ist sie in Ungarn Träger der Macht – ein kulturhistorisches Objekt als Träger staatlicher Souveränität.
Doch neben den sich aus der Krone ergebenden revisionistischen Ansprüchen auf Gebiete vor den Zeiten des Vertrags von Trianon wird auch das Christentum als der Nation zugehörige Religion in das Nationale Glaubensbekenntnis aufgenommen. Nur kurz sei erwähnt, dass sich aus verfassungsrechtlicher Sicht so eine Vorrangstellung der christlichen Glaubensgemeinschaften ableiten lässt. Das zugesicherte Recht der Glaubensfreiheit könnte dadurch unterlaufen werden.
Abtreiben verboten?
Die Kritik kann und muss jedoch auch auf den weiteren Verfassungstext ausgedehnt werden. Verfassungen europaweit gewähren Rechte. Ist eine Beschränkung notwendig, so sind die Schranken direkt im Artikel genannt. So wählte z.B. der Parlamentarische Rat 1948/49 die Formulierung „Näheres regelt ein Bundesgesetz“. Eben diese Art der Schranken fehlt an entscheidenden Stellen der Osterverfassung. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen.
Das neue ungarische Grundgesetz stellt das Recht auf Leben ab dem Moment der Befruchtung unter Schutz. Hier ließen sich nun zwei Lesarten herausarbeiten. Die positive und von der Regierung angestrebte lautet: Im Falle einer gewünschten Abtreibung müsse das Recht der Mutter auf ein selbstbestimmtes Leben und Entfaltung ihrer Persönlichkeit mit dem des Ungeborenen abgewogen werden. Bis hierhin ist dem nicht zu widersprechen. Auch in Deutschland wurde diese Diskussion geführt – Anfang der siebziger Jahre.
Nun müsste also das Verfassungsgericht als Entscheidungsinstanz abwägen, da die bisherigen Abtreibungsgesetze verfassungswidrig und damit nicht mehr anzuwenden sind. Das Verfassungsgericht kann nunmehr als Interpretations- und Abwägungshilfe das Nationale Glaubensbekenntnis heranziehen. Durch das Fehlen sämtlicher Schranken beim Recht auf Leben bleibt keine andere Möglichkeit, als zwei Grundrechte gegeneinander aufzuwiegen. Das Ergebnis scheint hier eindeutig, denn durch den starken Bezug zum Christentum werden Abtreibungen wohl verboten werden.
Zu viel Macht für den Staatspräsidenten
Ein anders gearteter, aber nicht minder drastischer Fall betrifft die Machtfülle des Staatspräsidenten. In der Beschreibung seiner Befugnisse heißt es: „Der Staatspräsident kann das Parlament auflösen.“ Keinerlei Einschränkungen, keine Voraussetzungen. Hier gibt es keinen Raum für Interpretationen, hier wird dem Staatspräsidenten eine Machtfülle zuerkannt, wie sie es zuletzt in der Weimarer Republik gab.
Der Kritiker mag anmerken, dass bewusst zwei drastische Beispiele gewählt wurden, doch bleibt nur zu wiederholen, was der Philosoph János Kis sagte: „Mit dieser Verfassung beginnt keine neue Zeitrechnung, sondern ein Rückwärtszählen gen Vergangenheit.“
1. Am 21. April 2011 um 23:17, von Lars Becker Als Antwort Die Ungarische Osterverfassung
Die Präambel ist das eine große Problem dieser Verfassung. Das viel größere scheinen mir aber die zahlreichen „Schwerpunktgesetze“ die nur mit 2/3-Mehrheit geändert werden können. Polizei, Justiz, Millitär, Steuern, Renten, Stellung der Familien, Rechtsstellung des Präsidenten und der Abgeordneten, Pressefreiheit und Medienaufsicht und viele andere Rechtsbereiche mehr sollen nun mit Gesetzen geregelt werden, die eine 2/3-Mehrheit brauchen. Damit zementiert Fidesz auf absehbare Zeit ihre Rechtsvorstellungen in Gesetzen, die man wegen der gleichen Hürden bei der Änderung quasi als Verfassungszusätze sehen könnte. Alles andere ist ärgerlich und dumm, aber diese ausufernde Zahl von Schwerpunktgesetze ist meines Erachtens der eigentliche Skandal.
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