Wenn man ein Stehaufmännchen von der Seite anstößt, dann verliert es kurzzeitig die Balance. Doch auch wenn es schwankt, umkippen kann es nicht: Durch ein eingebautes Gewicht liegt sein Schwerpunkt so tief, dass es sich stets mithilfe seiner eigenen Schwerkraft wieder aufrichtet. Dieses eingebaute Gewicht wirkt für das Stehaufmännchen als eine Art automatischer Stabilisator.
Über die Frage, ob und wann es ökonomisch sinnvoll ist, eine gemeinsame Währung zu haben, gibt es eine Unmenge an wirtschaftswissenschaftlicher Forschung. Als wichtigster Vorteil gilt in der Theorie, dass durch ein einheitliches Zahlungsmittel die Umtauschkosten entfallen und Geschäfte besser planbar werden. Hauptnachteil einer Währungsunion ist hingegen ihre Anfälligkeit für sogenannte „asymmetrische Schocks“.
Das sind Situationen, in denen die Wirtschaft in einzelnen Regionen der Währungsunion in eine Krise geraten, während sie in anderen weiter boomt. Die Gründe dafür können ganz unterschiedlicher Art sein. So kann eine Industriebranche zusammenbrechen, die nur in einem Land beheimatet ist, oder ein politisches Ereignis kann sich auf ein Gebiet stärker auswirken als auf ein anderes. Die Folgen sind immer gravierend: Durch den asymmetrischen Schock kommt es zu einer Kapitalflucht von den Krisen- in die Boomregionen, die in einer Währungsunion nicht durch Wechselkursanpassungen ausgeglichen werden kann. Dies führt zu einer selbstverstärkenden Dynamik. Die Krisenländer stürzen noch tiefer in die Rezession, in den Boomländern hingegen beginnt die Wirtschaft heiß zu laufen und Blasen zu bilden.
Gleichzeitig versagen in einer solchen Situation die geldpolitischen Instrumente der Zentralbank. Senkt sie die Zinsen, heizt sie in den Boomregionen weiter die Inflation an; erhöht sie die Zinsen, würgt sie in den Krisenländern die Konjunktur vollends ab. Geht sie den Mittelweg, richtet sie vielleicht auf beiden Seiten Schaden an.
Es fehlt an automatischen Stabilisatoren
Ob eine Währungsunion funktionieren kann, hängt deshalb davon ab, wie gut sie asymmetrische Schocks auffangen kann. Entscheidend ist, ob sie Werkzeuge besitzt, um die Konjunkturentwicklung ihrer einzelnen Regionen aneinander anzugleichen. Innerhalb von Nationalstaaten ist der wichtigste dieser Mechanismen das gemeinsame Steuer- und Sozialsystem. Wenn bei einem asymmetrischen Schock nämlich die Arbeitslosigkeit in der Krisenregion steigt, so bezahlen die Menschen dort weniger Einkommensteuern, während sie gleichzeitig mehr Geld aus den Sozialkassen empfangen. Umgekehrt wächst in den Boomregionen mit hoher Beschäftigung das Steueraufkommen, während die Sozialausgaben zurückgehen. Über den gemeinsamen Haushalt kommt es zu einem Finanztransfer von den Boom- zu den Krisenregionen. Und dieser wiederum führt dazu, dass in den Krisenregionen die Konjunktur zulegt und zugleich in den Boomländern das Entstehen von Investitionsblasen verhindert wird.
Letztlich funktionieren die Transfers im Steuer- und Sozialsystem deshalb wie das Gewicht im Stehaufmännchen: Wenn ein Schock die Wirtschaft ins Schwanken bringt, schaffen sie von selbst ein Gegengewicht, das die konjunkturelle Entwicklung wieder ausbalanciert. Ihr entscheidender Vorteil ist, dass sie zuverlässig nach im Voraus festgesetzten Regeln und ohne die Notwendigkeit weiterer politischer Entscheidungen eintreten. Von Ökonomen werden Steuern und Sozialausgaben deshalb auch als automatische Stabilisatoren bezeichnet.
Auf europäischer Ebene fehlen solche automatischen Stabilisatoren bislang: Der Haushalt der EU ist zu klein und die darin vorgesehenen Transfermechanismen (etwa die Struktur- und Regionalfonds) sind zu schwerfällig, als dass sie einen kurzfristigen Konjunkturausgleich ermöglichen könnten. Nicht zufällig hat sich die europäische Währungsunion deshalb wiederholt als besonders anfällig für asymmetrische Schocks erwiesen: Anfang der 2000er Jahre etwa steckte Deutschland in einem wirtschaftlichen Tief, während im boomenden Südeuropa große Immobilienblasen entstanden. Umgekehrt führte die Eurokrise zu einem massiven Wirtschaftseinbruch am Mittelmeer, während die nordeuropäischen Länder kaum davon betroffen sind. Unabhängig davon, worin die Ursachen für diese Rezessionen im Einzelnen lagen, fielen sie alle schwerer aus als notwendig, da sich die Gegensätze innerhalb der Eurozone ohne einen automatischen Stabilisator selbst verstärkten. Zugleich legte die Blasenbildung in den Boomstaaten den Keim für die nächste asymmetrische Krise.
Eine EU-Arbeitslosenversicherung federt asymmetrische Schocks ab
Eine Lösung für das Problem ist die europäische Arbeitslosenversicherung (EALV). Diese finanziere sich aus den Lohnnebenkosten und könnte die derzeit bestehenden nationalen Systeme für Kurzzeitarbeitslose teilweise ersetzen. Denkbar ist hierfür ein Modell, bei dem alle Sozialversicherungspflichtigen zwei Prozent ihres Gehalts in die europäische Versicherung einzahlen und im Falle der Arbeitslosigkeit für zwölf Monate Anspruch auf 50 Prozent ihres letzten Gehalts haben. Darüber hinausgehende Leistungen wären weiterhin Sache der einzelnen Mitgliedstaaten und ihrer nationalen Versicherungssysteme.
Für den Arbeitslosen würde sich durch diese Maßnahme erst einmal nicht viel ändern: In praktisch allen EU-Mitgliedstaaten liegen die nationalen Versicherungsleistungen heute höher als die, die die EALV bieten würde. Die Auswirkungen auf die Konjunktur in der Eurozone aber wären enorm, denn so wie heute schon in den innerstaatlichen Sozialsystemen gäbe es künftig auch europaweit automatische Transfers von Regionen mit hohem Beschäftigungsgrad zu Gebieten mit enormer Arbeitslosigkeit. Bei einem asymmetrischen Schock würde die EALV die Nachfrage in den Krisenländern stützen, Blasen in den Boomstaaten verhindern und insgesamt schwere Wirtschaftskrisen eindämmen. Zudem könnten diese leichter bekämpft werden.
Die Beschränkung der Leistungen auf zwölf Monate würde sicherstellen, dass die EALV nur kurzfristige, konjunkturell bedingte Arbeitslosigkeit finanziert. Die automatischen Transfers würden daher zu keiner dauerhaften Umverteilung zwischen den Mitgliedstaaten führen. Über den vollen Konjunkturzyklus hinweg wäre die fiskalische Nettobilanz für jeden Mitgliedstaat nahezu ausgeglichen. Auch die wirtschaftsstärksten Mitgliedstaaten würden also in einer Krise ebenso sehr von den Leistungen der EALV profitieren, wie sie im Boom darin einzahlen – die Stabilisierung der Währungsunion gäbe es gewissermaßen zum Nulltarif.
Die heutige Eurozone gleicht einem Stehaufmännchen, dessen Statik beim Basteln falsch berechnet wurde. Solange niemand dagegen stößt, sieht sie hübsch aus, doch bei jeder Krise droht sie umzufallen und womöglich ganz zu zerbrechen. Damit sie sich in Zukunft im Gleichgewicht halten kann, braucht es automatische Stabilisatoren. Am vergangenen Wochenende hat sich der Bundesausschuss der JEF daher für die Einrichtung einer europäischen Arbeitslosenversicherung ausgesprochen.
1. Am 11. Juni 2013 um 18:21, von René Repasi Als Antwort EU-Arbeitslosenversicherung: Damit die Eurozone zum Stehaufmännchen wird
Ein sehr guter Beschluss und eine sehr gute Analyse. Leider bedarf es für die Umsetzung dieser europäischen Arbeitslosenversicherung einer Vertragsänderung.
Eine kreative Fortentwicklung der Idee der Europäischen Arbeitslosenversicherung, wie sie möglicherweise auf der Grundlage der existierenden Vertträge funktionieren könnte, wurde vom französischen Sachverständigenrat vorgelegt: http://www.cae.gouv.fr/IMG/pdf/CAE-note003-DE.pdf.
2. Am 11. Juni 2013 um 19:59, von Christoph Als Antwort EU-Arbeitslosenversicherung: Damit die Eurozone zum Stehaufmännchen wird
Da kann ich mich meinem Vorredner nur anschließen. Solche Forderungen stehen der JEF wirklich gut zu Gesicht, weil sie einen europäischen Geist atmen und einen Blick jenseits der tagespolitischen Debatte werfen, weil sie die Floskeln europäischer Sonntagsreden hinter sich lassen und einen konkreten, konstruktiven Beitrag leisten.
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