Die Schuldenkrise in Griechenland bestimmt derzeit die EU-Berichterstattung. Kurz vor dem Brüsseler-Frühjahrsgipfel hat die politische Debatte eine interessante Stoßrichtung angenommen. Deutschland – vom britischen Economist noch vor kurzem als neues Wirtschaftswunderland geadelt – gerät in die Defensive und muss sich die Frage gefallen lassen, ob es den Griechen zu wenig hilft. Und mehr noch: Die französische Wirtschafts- und Finanzministerin Lagarde moniert offen, die langjährige Lohnzurückhaltung in Deutschland und die massiven Außenhandelsüberschüsse gingen zu Lasten der europäischen Nachbarn. Auf Spiegel Online ist zu lesen, dass Kanzlerin Merkel bei den EU-Partnern von Miss Europa zur Frau Nein verkommen sei. Selbst Vergleiche mit Maggi Thatcher machen die Runde.
Wie dem auch sei. Merkel hat Gründe für ihr Verhalten. Sie blieb aber auch eisern, um das Thema Griechenland von der Tagesordnung des EU-Frühjahrsgipfels fernzuhalten. Denn hier sollte es mit „Europa 2020“ eigentlich um etwas ganz anderes gehen. Nämlich die Verabschiedung der neuen EU-Wachstumsstrategie.
Auf der Suche nach Wachstum
Aber drehen wir die Zeit ein wenig zurück. Bereits im Jahr 2000 verabschiedete die EU mit der Lissabon-Strategie einen ersten ehrgeizigen Plan. Bis 2010 sollte Europa zur innovativsten und wirtschaftsstärksten Region der Welt aufsteigen. Heute sind wir weiter davon entfernt als damals. Allein im vergangenen Jahr ist die Wirtschaft der Euro-Zone um vier Prozent geschrumpft. In der Printausgabe der ZEIT (25.3.2010, S. 26) ist zu lesen, dass 2009 insgesamt 23 Millionen Menschen auf Jobsuche in der EU waren. Nur zur Erinnerung: Die Lissabon-Strategie hatte einst Vollbeschäftigung zum Ziel. Wachstum lässt sich eben nicht per Dekret verordnen.
2009 dann der nächste Wurf. Ein unter Druck geratener Barroso, der gerade von den europäischen Konservativen für eine zweite Amtszeit nominiert wurde, legte im Sommer sein künftiges Regierungsprogramm vor. Ein Verlegenheitskonzept, das sich Barroso einfallen lassen musste, um seine Bestätigung im EU-Parlament zu sichern. Harsche Kritik übten damals beispielsweise schon die beiden Euroblogger Julien Frisch („To make it short: It’s not worth reading.“) und The European Citizen („Sadly, there’s not much content in Barroso’s EU2020 plan […]”).
Zu schnell, zu unkonkret
Im Herbst wurde das Programm (wie aus dem Nichts) zur EU2020-Strategie hochstilisiert. Offensichtlich ist den Entscheidern in Brüssel aufgefallen, dass die Lissabon-Strategie in Kürze auslaufen sollte. Für November 2009 terminierte die Kommission eine öffentliche Konsultation (ein sogenanntes Grünbuch) zur EU 2020 Strategie. Der enge Zeitplan geriet enorm unter Beschuss. Nachhaltiges Wachstum? Bildungsoffensive? Mehr Forschungsausgaben? Starke Internetwirtschaft? Einheitliche Steuern? Die EU sollte mal eben schnell, schnell über die strategischen Ziele für das neue Jahrzehnt entscheiden. NGOs und Politiker forderten zu Recht mehr Zeit für eine angemessene Revision der Lissabon-Strategie und eine Auseinandersetzung mit den strategischen Prioritäten der EU bis ins Jahr 2020 (vergleiche zusammenfassend). Und auch die Zivilgesellschaft wurde viel zu wenig eingebunden. Da können auch die rund 1.500 Beiträge zum Grünbuch nicht drüber hinwegtäuschen.
Die Europakammer im deutschen Bundesratkritisierte das Tempo im politischen Prozess scharf. Sie forderten im März 2010 deutlich mehr Zeit zwischen dem endgültigen Entwurf der Barroso-Kommission und der ursprünglich schon für den Frühjahrsgipfel avisierten Verabscheidung von Europa 2020. Der Tagesspiegel zitiert den baden-württembergischen Europaminister Reinhardt (CDU): „Es ist schon sehr erstaunlich, dass die EU bei einer so entscheidenden Sache wie ihrem Grundsatzprogramm für die nächsten zehn Jahre eine Planung an den Tag legt, die den Ländern in Deutschland nur eine Woche Zeit lässt, um ihre Standpunkte darzulegen.“ Und Euroblogger Julien Frisch untermauert das richtige und nach seiner Einschätzung bisher einmalige Verhalten der Europakammer des Bundesrats noch einmal mit einem Verweis auf den Vertrag von Lissabon, wonach die Legislative der Nationalstaaten gemäß der Subsidiaritätsklausel acht Wochen Zeit hat, auf Europäische Politikvorschläge zu reagieren.
Und die Inhalte?
Nun wurde beim Frühjahrsgipfel in Brüssel darüber diskutiert, wie ambitioniert und verbindlich die Ziele der neuen Gemeinschaftsstrategie werden sollten. Der Kommissionsvorschlag deckt ein breites Spektrum ab und ist tendenziell eher zu wenig konkret, als dass es noch mehr Themenbereiche bedürfte. Am Ende stand nicht mehr als ein Minimalkonsens, der aber wenigstens auf eine konkrete Wachstumsrate der Wirtschaftszone verzichtete. Die dpa resümierte mit den Worten: „Kaum vorgeschlagen – schon verwässert“. Und dabei viele offene Fragen gelassen: Wie soll die EU zum Hightechstandort werden, wenn sie nicht massiv die Forschungs- und Entwicklungsausgaben in die Höhe treibt? Und wie soll die EU Innovationstreiber werden, wenn Europa 2020 den Bildungsbereich weitestgehend ausklammert und den Bolognaprozess nicht mitdiskutiert? Noch immer finden sich einige hochtrabende Ziele mit einem weiten Planungshorizont, statt konkret umzusetzende Maßnahmen. Immerhin verhinderten die deutschen Bundesländer erfolgreich, dass das Ziel, 40 Prozent junger Menschen eine Hochschulausbildung zu verschaffen, zum jetzigen Zeitpunkt Eingang in die Strategie fand.
Fraglich bleibt auch, ob die 27 Staats- und Regierungschefs tatsächlich irgendwann auf eine gemeinsame Europäische Wirtschaftspolitik hinarbeiten. Wahrscheinlich eher nicht, denn eine Europäische Wirtschaftsregierung müsste tief bis in nationalstaatliche Kompetenzfelder wie Arbeitsmarkt-, Sozial- und Steuerpolitik reichen. Und was ist überhaupt mit den neuen Strukturen und Akteuren des Vertrags von Lissabon, die kaum Erwähnung finden?
Das Lissabon-Nachfolgeprojekt soll endgültig im Juni verabschiedet werden. Was auch immer bis dahin noch nachverhandelt wird. In zehn Jahren werde ich diesen Beitrag wieder ausgraben. Mal sehen, wo wir uns dann Dank Europa 2020 hin entwickelt haben.
1. Am 1. April 2010 um 20:40, von Volker Lindenthal Als Antwort EUtopia 2020: Brüssel entwirft Fahrplan für die nächsten 10 Jahre
Ich denke, die Lissabon-Strategie hat gezeigt, wie sinnlos es ist, auf europäischer Ebene große Wirtschaftspläne zu schmieden. Zwar sind die wesentlichen Politiken wirtschaftswissenschaftlich gut unterfüttert, wie der Sapir Report zeigt, doch müssen sie jeweils national implementiert werden. Der Wirtschaftsraum der EU scheint mir (noch) zu heterogen, als daß man eine one-size-fits-all Politik durchdrücken könnte. Wichtig ist auch das Zusammenspiel der verschiedenen Ansätze. Zwar wurden vereinzelt wichtige Reformen, wie die des Arbeitsmarktes in Deutschland, umgesetzt, doch dafür andere Felder vernachlässigt.
Jedoch gibt eine solche Agenda auch eine ungefähre Stoßrichtung vor, die zugleich Orientierung ist, wohin die Fahrt gehen soll. Man kann allerdings nur hoffen, daß sich dabei die Reformmüdigkeit bald wieder legt...
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