Enzensberger: EU ist ein „sanftes Monster“ – und was ist mit dem Nationalstaat?

Eine Kritik zum SPIEGEL-Auszug von Hans Magnus Enzensbergers Essay

, von  Stéphane du Boispéan

Enzensberger: EU ist ein „sanftes Monster“ – und was ist mit dem Nationalstaat?
Links: Cover des Essays; Rechts: SPIEGEL Cover (9/2011) © Suhrkamp Verlag; © SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein

Der Spiegel (Nr. 9/2011) veröffentlicht Auszüge aus einem Buch von Hans Magnus Enzensberger, der die EU auf klassische Art kritisiert: Sie sei zu bürokratisch und dadurch nicht demokratisch genug, ganz so, als wäre das in den Nationalstaaten nicht der Fall. Mehrere Beispiele beweisen jedoch, dass diese Kritik an der EU entweder nicht begründet ist, oder, dass sie auch auf die nationalen Mitgliedsstaaten zutrifft.

Die EU ist eine komplizierte Verwaltung – und Deutschland eine einfache?

Als Beispiel dafür, dass die EU und die Brüsseler Institutionen unverständlich wären, nennt Enzensberger die innere Gliederung der Kommission in Generaldirektionen, die durch ihre Abkürzungen unverständlich seien: MOVE, ENER, JUST usw. seien für die Bürger etwas zu kompliziert und würden deswegen die EU undurchsichtig machen. Das ist an sich richtig. Na und? Wie viele Bürger sind in Deutschland fähig zu sagen, was BMVBS, BMWi und BMI heißen? Wie viele können verstehen, was im BMVBS das Referat LR13 und LR22 machen, und warum es ein LR24 aber kein LR14 gibt [1]?

Eine Exekutive hat in ihrer Verwaltung Abkürzungen, das ist nichts neues und kein spezifisches Phänomen der EU. Wenn sie nur deswegen ein Monster ist, dann gibt es 192 Monster, wenn nicht mehr, auf dieser Erde.

Die Entscheidungen aus Brüssel sind intransparent? Und die aus Berlin?

Die klassische Legende der intransparenten Entscheidungen wird auch von Enzensberger forciert. Der Vorwurf ist nicht neu: Die Richtlinien würden hinter verschlossenen Türen gemacht, man wisse nicht, welche Lobbyisten da Einfluss hätten, und woher der Vorschlag kommt. An dieser Stelle lohnt sich ein Vergleich mit dem Nationalstaat: Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Koalitionsparteien in Koalitionstreffen im Kanzleramt – ohne Journalisten – verhandeln, wird in jedem legislativen Vorschlag der Kommission erklärt, warum ein Vorschlag notwendig ist, welche Optionen analysiert wurden, wer dazu Stellung genommen hat. Dies ist die Pflicht der Kommission. Ein kleines Beispiel ist die Richtlinie zu Flughafenentgelten, in der sich die Hälfte des Kommissionspapiers damit befasst, die Gründe zu schildern. [2] Wenn das Intransparenz bedeuten soll, dann lässt sich fragen, wie die Vorschläge einer nationalen Regierung zu kennzeichnen sind. „Undemokratische Vorschläge“ dieser Art würde man sich in den Nationalstaaten wünschen!

Die Konsequenz ist, dass die Normen der EU von Enzensberger als nicht rechtsstaatlich gekennzeichnet werden, u.a weil sie nicht Gesetze heißen. In diesem Punkt stimme ich ihm zu und man kann nur hoffen, dass Herr Enzensberger bei dieser Frage bedauert, dass der EU-Verfassungsvertrag abgelehnt wurde (in Volksabstimmungen wohlgemerkt).

Die gute alte Standardisierung: Wäre es auf nationaler Ebene einfacher?

Das letzte, aber bedeutendste Märchen über die EU ist die Idee, dass Brüssel nicht nur undemokratisch ist, sondern jene Details unseres Leben standardisieren will, die eher auf nationalstaatlicher Ebene geregelt werden sollten. Hinter dieser Kritik steht das Argument, dass die EU-Normen sinnlos seien und unser Leben komplizierter machen würden.

Gab es vor der EU solche Normen nicht? Doch, die gab es. Selbstverständlich war vor der EU geregelt, wie die Gurken aussehen müssen oder wie Kloschüsseln herzustellen sind – auf nationaler Ebene wohlgemerkt. Diese Standardisierung ist nicht nur ein Schutz der Verbraucher, sondern eine Vereinfachung unseres Lebens, denn statt 27 haben wir nun nur eine Norm. Oder würde Herr Enzensberger es besser finden, wenn z.B jeder Bürgermeister entscheiden könnte, wie in seiner Stadt die Steckdosen aussehen sollen? Wie viel Freiheit würde dies bedeuten? Der Vorwurf, die EU versuche die „Lebensverhältnisse zu homogenisieren“, verleugnet, dass alle Staaten der Erde dies machen und die EU-Normen für Verbraucher Vorteile bieten. Ein aktuelles Beispiel ist die Kommissionsinitiative, die im Februar einen einheitlichen Stecker für Handys durchsetzte.


Das Buch erscheint erst Mitte März in den Buchhandlungen. Die vom Spiegel veröffentlichen Auszügen sind jedoch interessant, weil sie nur so von Klischees und Vorurteile über die EU strotzen. Die Kritik über die Brüsseler Verwaltung könnte genauso an jede nationale Verwaltung gerichtet werden. Herr Enzensberger dagegen, schießt sich auf die EU ein. Warum nimmt er nicht einmal Deutschland ins Visier, um die Ziele seiner Kritik zu vergleichen? Fakt ist, dass Politik und Verwaltung kompliziert sind. Fakt ist jedoch auch, dass die Probleme der EU keine europäische Eigenheit sind, sondern typische Probleme großer politischer Einheiten.

Informationen zum Buch: „Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas“ erscheint am 15. März 2011 im Suhrkamp Verlag, 70 Seiten, ca. 7 Euro, ISBN: 978-3518061725.

Ihr Kommentar
  • Am 16. März 2011 um 13:26, von  Cédric Als Antwort Enzensberger: EU ist ein „sanftes Monster“ – und was ist mit dem Nationalstaat?

    Enzensbergers Artikel ist nochmal ein Artikel über die EU, der von durchaus falschen Postulaten ausgeht : nein, es ist nicht wahr, dass über 80 Prozent aller Gesetze nicht mehr von den Parlamenten, sondern von den Brüsseler Behörden initiiert werden. Das stimmt gar nicht! Das sollte unsere allererste Antwort an solche Artikel sein: Schluss mit dem 80% Mythos!

    Vielleicht 8%, 10%, höchstens 15%, abhängig vom Mitgliedstaat. Aber auf keinem Fall 80%!

    Es gibt keine Direktiven über Kruzifixe in Schulzimmern, Wäsche-Trocknen im Freien, Wohnung-Vermieten, Baustoffe-Uniformisierung, Universitäten und Schulen... Das gibt einfach nicht!

    Warum glauben so viele Leute, dass es im Gegenteil die Wahrheit ist? Weil das jehrzehntelang Europhilen und EU-Lobbyisten wiederholt haben, um Leute davon zu überzeugen, dass sie sich für die EU interessieren sollte.

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