Maastricht liegt im südlichsten Zipfel der Niederlande uns ist so etwa wie München: Reich, sauber, schön und der Rest des Landes macht sich über den regionalen Dialekt lustig. Maastricht ist aber auch ein Paradies für Europäer, das wurde mir schon zu Anfang meines Studiums klar: Auf dem Rathaus weht die EU-Fahne über der Stadt- und Staatsfahne, auf den Straßen hört man ständig Fremdsprachen und 50 Prozent der Studenten kommen aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland. Anti-europäische Stimmen habe ich hier in drei Jahren nicht gehört. Kein Wunder also, dass unsere neue JEF-Sektion viel Zuspruch findet.
Europa weniger beliebt
Doch leider ist Maastricht ein positives Extrem. Europa wird im Rest der Niederlande weniger gelebt und weniger geliebt. Zu Letzterem hat die Krise viel beigetragen. Vor vier Jahren hatten noch zwei Drittel der Niederländer ein positives Bild von der Europäischen Union – mittlerweile ist es nur noch ein Drittel. Dies verwundert nicht, da die Niederländer die europäische Integration in erster Linie mit dem Euro und den Freiheiten des Binnenmarkts verbinden und die Lage der nationalen Wirtschaft deutlich besser einschätzen als die im Rest der EU. Die Krise aber „stellt die Selbstverständlichkeit und Vorteile des Euro und der EU zur Debatte“, schlussfolgerte im September das niederländische Institut für soziale und kulturelle Forschung (SCP), das die Regierung berät.
Genau wie in Deutschland und anderswo haben es die pro-europäischen Kräfte in der Krise schwer, für ihre Sache zu werben. Die Arbeitslosigkeit stieg im September auf 6,6 Prozent. Das ist zwar die zweitniedrigste Rate innerhalb der EU, doch für die Niederlande sind die mehr als 500.000 Arbeitslose sehr viel – „zu viel“ sagen die Nationalisten und machen die EU für die Misere mitverantwortlich. „Wenn wir aus der EU austreten, sind die Niederlande wieder ein freies Land“ propagierte Geert Wilders im Wahlkampf um die Tweede Kamer. Noch im Juni sah es so aus, als würden erneut 15 Prozent der Wähler seiner rechtsradikalen „Partei für die Freiheit“ (PVV) die Stimme geben und damit ihren EU-feindlichen Kurs bestätigen. Doch es kam anders. Am 12. September verlor die PVV neun ihrer 24 Sitze und teilt sich nun mit den eher eurokritischen Sozialisten (SP) den dritten Rang. Die etablierten Parteien, die liberal-konservative VVD und die sozialdemokratische PvdA, gewannen dagegen kräftig an Stimmen und werden nun zusammen eine Koalition bilden.
Die Pläne der kommenden Regierung
Obwohl Premierminister Mark Rutte, VVD, im Amt bleiben wird, dürfte er offener für europäische Lösungen werden. Denn erstens braucht er die unsägliche PVV nicht mehr, auf dessen Duldung seine Regierung angewiesen war: „Die Idioten sind weg, jetzt werden wir wieder normal“, hieß es vielerorts nach der Wahl. Und zweitens will der sozialdemokratische Koalitionspartner in vielen Bereichen mehr Europa: der Finanzmarkt soll europaweit reguliert werden, ein Investitionspaket die EU-Wirtschaft ankurbeln und Absprachen über Mindestlöhne und soziale Mindeststandards getroffen werden. Dass sich die Sozialdemokraten mit ihren Vorhaben vollständig durchsetzen können, ist unwahrscheinlich. Eher wird die Europapolitik des Kabinett Rutte II der von Merkel ähneln: ja zu mehr Europa aber nein zum großen Wurf. [Der Koalitionsvertrag wurde den Fraktionen mittlerweile, am 29. Oktober, vorgelegt; die Redaktion].
Eigene Geschichte – eigenes Verständnis von Europa
Diese Einstellung entspricht auch dem grundsätzlichen Verhältnis der meisten Niederländer zu Europa: Zwar sehen sich zwei Drittel von ihnen als Europäer, doch die nationale Identität steht bei neun von zehn Niederländern an erster Stelle. In Deutschland ist das zwar genauso, doch die Beziehung der Niederländer zur Nation ist eine andere. Man ist „trots op Nederland“ und das schon seitdem sich 1581 sieben Provinzen zu einer Republik zusammenschlossen. Auch wenn man zu dieser Zeit nicht von einem Nationalbewusstsein im heutigen Sinne sprechen kann, so entwickelte sich doch eine Art niederländische Identität. Fundament dieser war auch das „Huis van Oranje“, das bis heute die niederländische Königsfamilie stellt und beim Volk breite Akzeptanz findet.
Die Republik bestand bis 1795 und war eine Konföderation mit viel Freiheit für die Teilstaaten nach innen, aber einer gemeinsamen Außen- und Kriegspolitik. Nur so konnte es den kleinen Provinzen gelingen, im Konzert der Großen mitzuspielen und im 17. Jahrhundert sogar kurzzeitig eine führende Macht zu werden. Heute ist der Zuspruch für eine gemeinsame Außenpolitik der 27 EU-Staaten dagegen vergleichsweise gering: 55 Prozent sind dafür und 40 Prozent dagegen (EU27: 61 zu 28). Dazu passt die Einschätzung von Premierminister Rutte: „nur für eine kleine Gruppe von Leuten spielt die Debatte über ein föderales Europa eine Rolle“.
Worauf es ankommt
Bedeutet diese Einschätzung und das aktuell schlechte Bild von der EU, dass wir Föderalisten nicht mit den Niederlanden rechnen können? Nicht unbedingt, denn das Europaparlament steht beispielsweise relativ hoch im Kurs. 96 Prozent haben von der Institution gehört und 51 vertrauen ihr – ein bisschen mehr als dem nationalen Parlament. Es wird darauf ankommen, dass die Niederländer fühlen, dass sie persönlich von der europäischen Integration profitieren. Und sie müssen Gelegenheit kriegen, Europa zu erleben: sei es durch Reisen, Arbeiten oder Lernen. In der Provinzstadt Maastricht ist das alles bereits Realität.
Dieser Artikel erschien im neuen gedruckten Treffpunkt Europa, Mitgliedermagazin der JEF-Deutschland. Die aktuelle Ausgabe widmet sich der Bedeutung von Mobilität für Europa und ist als kostenloser Download erhältlich.
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