„Ungarn führt die Zensur ein“, titelt ZEIT Online; „Ungarns Medien-Maulkorb alarmiert die EU“, heißt es bei Spiegel Online. Ungarns rechtskonservative Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán beschneidet derzeit die Meinungs- und Pressefreiheit. Ein neues Mediengesetz, das im Januar 2011 in Kraft treten soll, ermöglicht es der ungarischen Medienbehörde NMHH, künftig auch private Fernseh- und Rundfunksender sowie Zeitungen und Internetportale unter ihre Kontrolle zu nehmen. Für öffentlich-rechtliche Medienanstalten ist dies bereits seit Sommer 2010 möglich. Die neuen Kontrollmöglichkeiten der Behörde wurden dabei sogar in der ungarischen Verfassung verankert. Als Sanktionsmechanismus gegenüber den Medienhäusern wird auf Geldstrafen gesetzt, die in ihrer Höhe existenzbedrohend seien, so ein Zitat im Tagesspiegel. Dort werden auch die möglichen Kosten bei redaktionellen Verstößen (bspw. „fehlende Ausgewogenheit in der Berichterstattung“) gegen die neuen Vorschriften genannt – umgerechnet bis zu 90.000 Euro bei Print- und Onlinemedien sowie 700.000 Euro bei Rundfunksendern.
Indes sind nicht alle Stimmen in Deutschland kritisch. FAZ.net warnt vor vorschnellen Verurteilungen. In einem mit „Der Geist der Nobelklasse“ überschriebenen Beitrag heißt es: „Noch bevor das Gesetz ein einziges Mal angewendet wurde, sind sich die Warner aus dem Westen einig, dass die Pressefreiheit ausgehebelt worden sei. Dabei kennt keiner von ihnen die ungarischen Medienerzeugnisse in deren unsäglicher Bandbreite von Antisemitismus bis Pornografie.“ Eine einsame Meinung? Bisher ist sie es. Doch widmen wir uns nun dem eigentlichen Zweck dieses Beitrags und werfen einen Blick in die Euroblogosphäre.
#NoToHuEU
In fast schon gewohnt schneller Reaktionszeit riefen die Autoren des bloggingportal.eu zu einem europäischen Blog-Aktion gegen die Zensur in Ungarn auf. In ihrem Blogpost heißt es im Original: „Europe’s bloggers are not going to accept that the EU Council will be presided over by a country acting against the fundamental rights of EU citizens. Such rank hypocrisy cannot go unchallenged.“ Der dazugehörige Twitter-Hashtag war ebenfalls schnell gefunden. Unter dem von @ronpatz vorgeschlagenen #NoToHuEU herrscht seitdem rege Aktivität.
Die Botschaft war also klar – und sie wurde gehört! Es folgte schnell eine Zahl von Blogbeiträgen aus verschiedensten Ländern. Hungarian Spectrum liefert eine umfangreiche europäische Presseschau mit den Reaktionen zum neuen Gesetz. Stephen Spillane zeigt noch einmal auf, gegen welches geltende Recht Ungarn verstößt. Mathew Lowry weißt auf den Umstand hin, dass auch Blogs, die von mehreren Autoren geschrieben werden (wie bspw. der tp online) von einem solchen Gesetz betroffen sein könnten. Anna Maria Darmann, VP Communication des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, verschiebt (oder ändert) ihren ursprünglich geplanten Post über den Beginn der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft zugunsten eines lesenswerten kritischen Beitrags über die Ereignisse in Ungarn. Euractiv berichtet ebenfalls ausführlich und verteilt dabei Seitenhiebe gegenüber den Kommissionssprechern, die sich im Vergleich bspw. zur OSZE wenig bis gar nicht zu den Ereignissen in Ungarn äußern wollten/konnten. Ähnlich gelagert, aber noch amüsanter, ist der Hinweis von @EuroGoblin auf Twitter, der sich zwar darüber freut, dass die anstehende Ratspräsidentschaft auch bloggt, aber dennoch zu recht moniert, dabei die Kommentarfunktion vergessen zu haben. Die Verantwortlichen haben reagiert und Kommentare sind inzwischen zugelassen. Einen gelungenen Auftakt der EU-Ratspräsidentschaft hat man sich dennoch anders vorgestellt. Heute Morgen hieß es leicht beleidigt: „My point here is that I would not like to see the Hungarian EU presidency hijacked by this storm in the teacup.“ Lest selbst die Reaktionen darauf.
Reaktionen aus deutschen Blogs
Die deutschen Blogs sehen eine Verbindung zwischen der unerwartet schwachen Reaktion der Regierungen der Mitgliedsstaaten und der anstehenden EU-Ratspräsidentschaft Ungarns. So zum Beispiel Netzpolitik.org: „Pikant am Startdatum ist zusätzlich, dass Ungarn im ersten Halbjahr 2011 die europäische Ratspräsidentschaft inne hat, was vermutlich auch gerade die etwas fehlenden Kritik anderer europäischer Regierungen erklärt, die sonst immer weltweit die Demokratie anpreisen.“ Neben Meinung liefert der Blog auch Hintergründe zum neuen Mediengesetz.
Ganz ähnlich äußert sich Metronaut. Dort heißt es unverblümt: „Bislang sind die üblicherweise bei Iran, Venezuela & Co. auftauchenden besorgten Regierungsstimmen merklich leise geblieben. Das liegt daran, dass Ungarn ab dem 1. Januar die Ratspräsidentschaft der EU übernimmt, da wird diese massive Einschränkung der Pressefreiheit mal eben schnell auf dem Altar der Harmonie geopfert.“
Vera Bunse beschäftigt auf ihrem Blog … Kaffee bei mir? die Frage: „Europa, quo vadis?“, indem sie nicht nur auf die Vorgänge in Ungarn hinweist sondern auch auf informationsrechtliche und mediale Entwicklungen in Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland. Und auch die jebz, die Zeitschrift der Jungen Europäischen Bewegung Berlin-Brandenburg, weist auf das neue Gesetz zumindest in einer kurzen Meldung hin.
Update: Ich bin grad noch über zwei weitere interessante Beiträge aus dem deutschsprachigen Raum gestoßen. Der Kommunikationsrechtler Hubertus Gersdorf beleuchtet auf CARTA das Mediengesetz aus einer rechtlichen Perspektive. Sein Fazit: Rechtlich betrachtet ist „das neue ungarische Mediengesetz kein Fall für die Europäische Union.“ Politisch jedoch, so schreibt er weiter in der Kommentarleiste, zeige der Fall vielleicht, dass wir einen Europäischen Bundesstaat brauchen, in dem die Gliedstaaten der Verfassung und den Grundrechten des Zentralstaates unterliegen." Frank Lübberding bezeichnet auf seinem Gemeinschaftsblog Weissgarnix „Ungarn als Geburtsstunde einer europäischen Öffentlichkeit“ und fordert Medienschaffende wie Europaparlamentarierer und die Zivilgesellschaft auf, aktiv zu werden.
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