Mehr als Krisenbewältigung!

Ein Plädoyer für eine visionäre Politik

, von  Christoph Sebald

Mehr als Krisenbewältigung!
Europa muss in Krisenzeiten den Weg weisen und nicht von Krise zu Krise hecheln, meint Christoph Sebald. © European Union, 2011

Erst einmal Herr der Krise werden

Wie Herr Dr. Arp bestens dargelegt hat, unternehmen sowohl die Nationalstaaten, als auch die EU einiges, um die diversen Krisen in den Griff zu bekommen. Gleichzeitig werden Mechanismen installiert, welche zukünftigen Krisen vorbeugen und Europa dauerhaft stabilisieren sollen. Nichtsdestotrotz wirkt die europäische Politikelite kopflos. Wie aufgescheuchte Hühner flattern sie den Krisen hinterher und reagieren auf immer neue Risiken, ohne jedoch ein schlüssiges Gesamtkonzept vorzuweisen.

Gerade der jüngste öffentliche Diskurs über die Ausweitung der EFSF Sicherheiten auf 211 Mrd. Euro hat eines gezeigt – die Politik sieht sich gezwungen, auf immer neue Problemlagen einzugehen, ohne deren Ende glaubhaft in Aussicht stellen zu können. Das gegenwärtige Krisenmanagement ist perspektivlos und verunsichert die Bürger in seiner Unabgeschlossenheit enorm. Es mangelt an europäischen Zielen und Visionen jenseits seichten rhetorischen Geplätschers.

Über die Bedeutung der Vision

Eine Problematik unserer derzeitigen Lage liegt in meinen Augen darin, dass eine europäische Politik der Trippelschritte ohne absehbares Ziel den Bürger verunsichert. Verunsicherung führt jedoch tendenziell zu Misstrauen, dies wiederum oft zu Ablehnung. Eine visionäre Zielsetzung könnte hierbei den integrativen Rahmen für anstehende gesellschaftliche Umstrukturierungen bilden.

Ich will dies mit einem Blick in die Vergangenheit veranschaulichen. Im 19. Jahrhundert einte die Bürgerlichen das gemeinsame Ziel der Nationalisierung und Demokratisierung, die Arbeiter der Kampf um ihre Rechte. Nach dem Krieg einte die Menschen der Wunsch nach Frieden und Wiederaufbau, später der Kalte Krieg und der Konflikt der Systeme. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR rückte schließlich das Ziel einer gesamteuropäischen Lösung in greifbare Nähe. Was ich damit verdeutlichen will: gesellschaftliche Visionen und Ziele wirken hochgradig sinnstiftend.

Nicht selten sind sie auch die Fortschreibung positiver gesellschaftlicher Entwicklungen und verstehen es dadurch die Menschen für sich einzunehmen. Zwei Dinge verstellen Visionen derzeit jedoch recht plump – und doch erfolgreich – den Weg.

Über das Wesen des Sachzwangs

Einerseits werden in Politik und Wirtschaft bestimmte Entscheidungen mit „Sachzwängen“ (u.a. Globalisierung, Markt) gerechtfertigt. Es wird der Eindruck erweckt, man könne nicht anders handeln, weil einen zum Beispiel die globalen Entwicklungen unter Zwang setzten. Damit werden die Verantwortlichen hinter einer anonymen, geradezu natürlichen Macht verschleiert. Dem Betroffenen ist es nun nicht mehr möglich, Kritik zielgerichtet zu üben, denn es fehlt der Adressat der Kritik. Dabei disqualifizieren sich Politiker jedoch als Akteure (da sie offensichtlich keine Handlungsmacht mehr besitzen) und erschweren fortan eine glaubhafte Ziel- und Rahmensetzung enorm.

Ganz davon abgesehen ist die These vom anonymen Zwang Unfug, da in jeder menschlichen Gesellschaft alles Handeln seinen menschlichen Ursprung haben muss. Vielmehr liegt allem äußeren Zwang eine Ideologie zu Grunde, die man abschätzig „libertär“, im Volksmund auch „neoliberal“, nennen würde. Das Prinzip vom „freien Markt“ (der eigentlich zu großer Unfreiheit, nämlich Anpassungszwang führt) und Wettbewerb sind keine globalen Naturkräfte, sondern müssen Tag für Tag in den Ebenen von Management, Kapitaleignern und deren Zuarbeitern reproduziert werden. Verheerend ist dabei insbesondere, dass es ihnen gelungen ist, das egoistische Prinzip des Marktes in vielen Bereichen der Gesellschaft überzustülpen und das Primat der Politik ernsthaft herauszufordern.

Die Schädlichkeit des Wettbewerbs oder die andere Seite der Medaille

Zum anderen ist die gesellschaftliche Entwicklung derzeit eine negative. Die Lohnspreizung steigt, prekäre Anstellungen nehmen zu und es hat eine sichtliche Zweck-Mittel-Usurpation stattgefunden. Man hat den einzig legitimen Zweck aller menschlichen Gesellschaft (den Menschen und sein Wohlergehen) zu häufig dem Mittel (Wirtschaftswachstum, Gewinnmaximierung) untergeordnet.

Allgemein wird hierbei angenommen, dass Wettbewerb und freier Markt stets positive Wirkungen entfalten und Wachstum erheblich beschleunigen. Durch die bestmögliche Ausschöpfung aller Optionen und das Ausschlagen aller anderen, die nicht den maximalen Erfolg versprechen, erzielt man die höchsten Gewinne und Produkte werden günstiger. Davon profitieren wir doch alle, nicht? Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Jeder Wettbewerb produziert notwendigerweise Verlierer. Ein Beispiel: Der Automobilhersteller A erwirtschaftet Gewinn. Er könnte jedoch mehr Gewinn erwirtschaften, wenn er auf einen günstigeren Zulieferer ausweicht, zudem die Belegschaft zusammenstreicht oder Lohnkürzungen erzwingt und somit Arbeitsverdichtung durchsetzt.

Während die Rendite gesteigert wird, die Autos durch geringere „Lohnnebenkosten“ eventuell billiger abgesetzt werden können (die Allgemeinheit also scheinbar profitiert), stehen die Verlierer ebenso fest: Mitarbeiter müssen länger arbeiten, Lohneinbußen hinnehmen oder werden entlassen. Hochgradig unethisch ist hierbei die Verdinglichung der Mitarbeiter zum Kostenfaktor. Die Würde der Arbeitnehmer wird nicht nur angetastet, sondern in ihrer Qualität derb herabgesetzt.

Wettbewerb ist nicht prinzipiell schlecht, sondern sinnvoll und notwendig. Er muss aber fair ablaufen, von ethischen Normen eingerahmt sein und die berechtigten Ansprüche aller Beteiligten berücksichtigen. Grundverkehrt ist seine extreme Zuspitzung auf Gewinnmaximierung unter Vernachlässigung gesellschaftlicher Werte, wie sie in den letzten Jahrzehnten Schule machte. Dieser Wettbewerb befördert eine zunehmende materielle Dichotomie und unterminiert die Gesellschaft. Oder einfach ausgedrückt: Management und Kapitaleigner werden immer reicher, während breite Gesellschaftsschichten in prekäre Verhältnisse abdriften.

Konsequenzen

Vor dem Hintergrund eines libertären Kapitalismus, der immerzu von Freiheit redet und doch nur das Recht des Stärkeren im Sinn hat, sind alle gegenwärtigen Stabilitätsmechanismen unzureichend. Sie könnten am Ende gar den Eindruck erwecken, für hinreichend Stabilität gesorgt zu haben, Handlungsdruck von den Politikern nehmen und somit den Prozess zunehmender politisch-ökonomischer Ungleichheiten stützen. Krisenmanagement ist ein erster Schritt, doch man darf nicht versäumen, weiter zu denken und schließlich weiter zu gehen. Die Krise sitzt tiefer! Europas Politiker müssen wieder für mehr Gemeinwohlorientierung sorgen. Was dazu nötig ist? Krisenbewältigung, gesellschaftliche Reformen, politische Ziele, eben eine europäische Gesellschaftsvision – und vor allem: politischer Wille!

Ihr Kommentar
  • Am 7. Oktober 2011 um 04:50, von  Brannenburg! Als Antwort Mehr als Krisenbewältigung!

    Rhetorisches Geplätscher ist die Kernessenz der Realpolitik.

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