Occupy Europa

– petits billets de Paris II –

, von  Frank Stadelmaier

Occupy Europa
Die EU wird von vielen Europäern als neoliberales Projekt ohne soziale Dimension angesehen. Bestimmte Rechte vorbehalten von hermapix

Brüssel ist nicht Wall Street. Aber wie Wall Street hat Brüssel ein Problem mit der demokratischen Legitimation. Wie der mathematische Finanzzirkus an der Wall Street erscheint vielen der Politikprozess in Brüssel undurchsichtig. Und vor allem hat Brüssel ein Problem mit der sozialen Gerechtigkeit.

Es ist kein Geheimnis, dass in Brüssel viele Lobbyisten ihre Arbeit verrichten. Sie alle haben es zur Aufgabe, die Interessen ihrer zahlenden Klientel zu befördern. Diese Klientel kann ganz unterschiedliche Anliegen haben. Neben den Tabaklobbyisten gibt es auch Lobbies für Umweltschutz, gewerkschaftliche Anliegen und sofort. Nur am System ändert das nichts. Wer das meiste Geld einsetzen kann, wird tendenziell den größten Nutzen ziehen. Das haben eigentlich alle politischen Systeme gemein; in sozialen Demokratien aber gibt es entgegengesetzte Mechanismen, die die Logik des größten Haufens mildern. In der Bundesrepublik Deutschland wäre das im Grundgesetz genannte Sozialstaatspostulat zu nennen. Die EU allerdings hat bis heute stets den Eindruck hinterlassen, hier einen blinden Fleck aufzuweisen, und alle Versuche, das „soziale Europa“ zu schaffen, sind leeres Wort geblieben.

Was im Ausland nicht immer wahrgenommen wurde: dies ist ein wichtiger Grund, warum die französischen Wähler 2005 mit 55 Prozent den Verfassungsvertrag abgelehnt haben. Die Linke, bis tief hinein in die PS, also die große Mitte-Links-Partei, stritt sich leidenschaftlich um den Vertrag. Ein wichtiges Feld der Diskussion: soll man ein „neoliberales“ Europa absegnen, weil es das einzige ist, das wir haben? Und es ist ja etwas dran: Bei den im Rat vertretenen Regierungen und der Kommission, auch im Parlament, kann sich besser Gehör verschaffen, wer vernetzt ist, organisiert und Geld hat – das ist in Brüssel nicht anders als in Washington. Den hieraus folgenden Vorurteilen, die teilweise grundlos sind, teilweise auf echte Missverhältnisse hinweisen, muss die EU in möglichst naher Zukunft mit substantiellen Politiken entgegentreten, will sie ein vor den eigenen Bürgern legitimer Akteur bleiben.

Es geht nicht nur um die sozial, ja selbst ökonomisch schädlichen Auswirkungen eines Wirtschaftens, das sich zu sehr auf den heißen und gleichzeitig luftleeren Eigenkreislauf seines Finanzsystems stützt. Es geht nicht nur um Defizite der demokratischen Beteiligung an Entscheidungen, die alle betreffen. Es geht nicht nur um die Lebensperspektiven derjenigen Europäer, die heute in arme, sozial benachteiligte Familien geboren werden. Es geht um all das und viel mehr, es geht um demokratisch unterfütterte soziale Gerechtigkeit – und damit um den Zusammenhalt unserer europäischen Gesellschaften. Ansonsten sind diese unsere Gesellschaften auf dem besten Weg, chronische soziale und politische Pathologien auszubilden, denen sie in ihrer Gesamtheit unterworfen sein werden.

Wenn wir auch in Zukunft in Europa in (sozialem) Frieden und (materiellem) Wohlstand leben wollen, muss dringend etwas getan werden, um der sozialen, ökonomischen und identitären Drift überall auf dem Kontinent entgegenzuwirken. – Daran wird sich die EU in den nächsten Jahren messen lassen müssen.

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