Interesse haben die französischen Medien an Österreich kaum. Sollte man aber nicht der besonderen Geschichte jenes Mitgliedsstaates der Europäischen Union mehr Aufmerksamkeit schenken? Versucht man, die konfliktvollen Beziehungen Österreichs zu Europa und zu seiner Vergangenheit besser zu verstehen, so sollte man sich mit der bedeutungsvollen Problematik der österreichischen Neutralität befassen.
Die grundsätzliche Rolle der Geschichte für Österreich
Auch wenn hier keine detaillierte Chronologie verwendet wird, können die geschichtlichen Gründe der besonderen Situation Österreichs nicht beiseite gelassen werden. Seit dem Bundesverfassungsgesetz über die « Immerwährende Neutralität » Österreichs vom 26. Oktober 1955 verfügt jener Staat über einen neutralen Status.
Das Ereignis sagt zwar selber nicht viel über die Gründe für die Neutralitätsentscheidung, man kann aber hinzufügen, dass das Gesetz 1955 nach zehn Jahren Besetzung durch die UdSSR, Großbritannien, die Vereinigten Staaten und Frankreich entstanden ist. Die Moskauer Deklaration von 30. Oktober 1943, - die den Anschluss Österreichs an Deutschland als null und nichtig erklärte [1] , die Errichtung eines unabhängigen österreichischen Staates vorsah und Österreich als Opfer des Nationalsozialismus erklärte - mag aber ebenso als Gründungsereignis der österreichischen Neutralität betrachtet werden.
Vergleichungsaspekte mit dem Deutschland der Nachkriegszeit : eine zweideutige geschichtliche Situation
Wird nun die Stellung Österreichs mit der Lage Deutschlands verglichen, so stellt man sehr schnell fest, dass der neutrale Status Österreichs schon 1955 alles andere als eindeutig war. Während der Preis für die Souveränität für Deutschland die Teilung in zwei verschiedene Staaten war, bestand dieser Preis für Österreich aus einem neutralen Status. Was meint der Begriff „Neutralität » eigentlich?
Im Falle Österreichs bedeutet er eine Art Gegenleistung für den Abzug der Besatzungstruppen, die das österreichische Territorium seit 1945 besetzten und die die geographische und strategische Lage Österreichs (eine Brücke zwischen Westeuropa und der UdSSR) genutzt haben. Das eigentliche Ende des Krieges auf österreichischem Boden hat erst mit dem Neutralitätsvertrag, der am 15. Mai 1955 zwischen der UdSSR und den drei anderen Besatzungsmächten unterzeichnet wurde, stattgefunden.
Kann ein Staat, der zehn Jahre lang durch fremde Besatzungsmächte besetzt und geteilt wurde, aber wirklich als Opfer der Gräueltaten, die im Laufe des Zweiten Weltkrieges verübt worden sind, betrachtet werden? Jene Zweideutigkeit ist übrigens schon in der Moskauer Deklaration zu finden, die bereits erwähnt worden ist [2].
Aus dem Vergleich mit der deutschen Geschichte mag ebenfalls viel über die Rolle Europas in der Suche Deutschlands und Österreichs nach einer neuen Souveränität geschlossen werden. Es scheint, als ob Europa Deutschland (bzw. Westdeutschland) ermöglicht hat, seine Souveränität auf internationaler Bühne neuzugewinnen, indem es zuerst große Erfolge auf nationaler Ebene erzielt hat : der wirtschaftliche Wiederaufbau durch das sogenannte Wirtschaftswunder ist ein gutes Beispiel für den neugeschaffenen nationalen Stolz.
Ganz im Gegensatz scheint Österreich seine Souveränität dank seiner internationalen Entwicklung wiedergewonnen zu haben, so, wie die für die internationale Offenheit symbolische Hauptstadt Wien es klar darstellt. Die Geschichte Österreichs selber erinnert deutlich daran, dass dieser zentralgelegene Staat immer enge wirtschaftliche Beziehungen mit seinen Nachbarn, insbesondere im Osten, gehabt hatte [3].
Die politischen Folgen der Geschichte Österreichs
Solche geschichtlichen Besonderheiten blieben selbstverständlich nicht ohne Konsequenzen für die Politik und die Gesellschaft Österreichs. Die Politik scheint einerseits voller Widersprüche zu sein : Neutralität und Beitritt zur Europäischen Union 1995 bilden eben ein Paradoxon. Hatte Österreich etwa sein Neutralitätsengagement 1995 « vergessen » ? War es nicht im Grunde seit langem Teil Europas ?
Eigentlich ist Österreich seiner Neutralitätserklärung nicht immer treu geblieben. Im Laufe des ersten Libanon-Krieges hat es beispielsweise amerikanische Maschinen im eigenen Luftraum erlaubt und hat es bewusst der internationalen Gemeinschaft zu spät gemeldet; weiterhin hat der österreichische Staat Truppen nach Afghanistan geschickt.
Andererseits hat die schwierige Lage Österreichs Folgen für die Gesellschaft selbst : im Gegensatz zu seinem deutschen Nachbar, der sich schon längst mit seiner Vergangenheitsbewältigung befasst hat, hat Österreich jenen schmerzhaften aber notwendigen Prozess viel später begonnen. Die Thematik der Vergangenheitsbewältigung hat in Österreich noch einen langen Weg vor sich, auch wenn schon viel getan wurde. Die offensichtlichste Folge dafür mag wohl der große Erfolg der Rechtsextremen sein, aber wir als Europäer sollten auch die schwierigen Beziehungen zwischen Österreich und der Europäischen Union näher betrachten: die Anprangerung der ÖVP-FPÖ Koalition 2000 durch die europäischen Partner Österreichs, das Nein zum EU-Beitritt der Türkei sind nur einige Beispiele dafür.
Österreich unter dem „originalen Licht“ der Literatur von Elfriede Jelinek
Jene späte und problematische Behandlung der Vergangenheit erklärt die besonderen Entwicklungen der österreichischen Literatur. Elfriede Jelinek, die der österreichischen Aufarbeitung einer kontroversen Geschichte höchst kritisch und polemisch gegenüber steht, gilt als Vorreiterin in der Vergangenheitsbewältigung [4].
Ohne literarische Schöpfung und Wirklichkeit zu verwechseln, können einige bemerkenswerte Punkte im Werk Elfriede Jelineks in den Vordergrund gerückt werden. Elfriede Jelinek schildert eher eine besondere geographische und « psychologische » Lage Österreichs als die Neutralität selber: Österreich würde eine Alpenrepublik bilden, bzw. ein Bergland mit verlorenen Tälern, dessen Bewohner getrennt voneinander lebten und nur wenige Kontakte untereinander hätten. Jene seltsame Atmosphäre gilt für Elfriede Jelinek als eine metaphorische und karikierende Kritik an der österreichischen Einstellung : die Verleugnung der eigenen Geschichte.
Dieser kurze Blick in eine polemische Fremdliteratur vermittelt der politischen Debatte über die paradoxe Situation Österreichs einen breiteren Reflektionsrahmen.
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