Reaktion auf Herzog, Bolkestein, Gerken

Subsidiarität als Vorwand: Für eine Politik guten nachhaltigen Lebens

, von  Martin Behrens

Reaktion auf Herzog, Bolkestein, Gerken

Bundespräsident (a. D.) Roman Herzog, EU Binnenmarktkommissar (a. D.) Frits Bolkestein und Lüder Gerken (Centrum für Europäische Politik) holten in der Zeitung Frankfurter Allgemeine vom 15. Januar 2010 zum Rundumschlag gegen die Europäische Union aus. Den Vorwurf „Die EU schadet der Europa-Idee“ füllen die Autoren vor allem mit der Klage - die Europäische Union umgehe permanent die Vorgaben des sogenannten Subsidiaritätsprinzips. Dabei fällt auf, dass sie eine Beschreibung genau dieser Europa-Idee schuldig bleiben und das sie das Subsidiaritätsprinzip äußerst einseitig betrachten.

Einseitiges Subsidiaritätsverständnis

Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass nur das durch die EU gesetzlich geregelt werden darf, was nicht sachgerecht auch auf nationaler Ebene regelgelt werden kann. Auch wenn sich die Verfasser scheinbar am Subsidiaritätsprinzip endlanghangeln fällt schnell zweierlei auf. Erstens ein inkonsistentes Verständnis von Subsidiarität sowie zweitens und damit einhergehend das eigentliche Ziel des Aufsatzes, nämlich gegen alles was den Herren an den Prozessen in der Europäischen Union nicht passt, zu Felde zu ziehen.

Subsidiarität konstituiere in den Augen der Autoren, über die reine Betrachtung der Problemlösungsfähigkeit der verschiedenen Ebenen hinaus, einen grundlegenden Vorrang der untersten Ebene (Nationalstaat) gegenüber der obersten Ebene (EU). Ein durchaus deutscher Ansatz, der im Bundes- und Landesrecht Deutschlands in der Regel dazu führt, dass Landesfürsten ihre Kompetenzen gegen den Zugriff der Bundesebene verteidigen. Dies geschieht oft zu Recht, was jedoch vergessen wird sind die Auswüchse des deutschen Föderalismus wie wir ihn zum Beispiel im Flickenteppich deutscher Bildungspolitik sehen können. Meiner Ansicht ist es wichtig zu betonen, dass Subsidiarität in beide Richtungen wirkt und selbstverständlich auch nur dann zu tragen kommt, wenn der Europäischen Union zu einem früheren Zeitpunkt für den jeweiligen Politikbereich die entsprechenden Kompetenzen übergeben worden sind. Der Vorwurf die EU nehme sich Kompetenzen, die sich per Gesetz gar nicht hat, greif deshalb ins Leere.

Die Autoren bemängeln die allgemeine Missachtung des Subsidiaritätsprinzip durch die Instanzen der Europäischen Union: „Diamentral zur ursprünglichen Intention versteht man in Brüssel unter Subsidiarität heute meist: Wenn Brüssel Geld gibt, kann das fragliche Problem besser auf EU-Ebene gelöst werden.“

Gleichzeitig könne nicht auf die Kontrolle durch den EuGH gesetzt werden, da dieser ein Interesse daran habe, die Kompetenzen der Europäischen Union stetig auszuweiten. Die meiner Ansicht richtige Schlussfolgerung ist deshalb, dass die Mitgliedsstaaten und hier vor allem ihre Parlamente ihrer Kontrollpflicht stärker als bisher nachkommen müssen.

Mehr europäische Kapazitäten in nationale Parlamente

Der Lissabonner Vertrag stärkt die Kontrollmöglichkeiten der nationalen Parlamente. Nichtsdestotrotz bleibt das Problem bestehen, dass die kurzen Einspruchsfristen und die gleichzeitige Flut neuer Richtlinien und Verordnungen eine effektive parlamentarische Kontrolle erschweren. Wenn über 80% deutscher Gesetze einen europäischen Ursprung haben bedarf es hier einer Kehrtwende. Faktisch müssten auch 80% der parlamentarischen Kapazitäten zumindest teilweise auf die Europäische Ebene fokussiert sein. Sicherlich werden europäische Fragen mittlerweile nicht mehr nur in den Ausschüssen für Auswärtiges und für Europa diskutiert, sondern sind Teil des parlamentarischen Alltags in allen Fachgremien. Es bleibt aber der Verdacht, dass weiterhin ein nicht-proportionales Verhältnis zwischen den ’20% nationalen Rechts’ und den ’80% europäischen Rechts’ und den ihnen jeweils zugewiesenen Kapazitäten besteht.

Mehr als ein europäischer Binnenmarkt

Als größte Herausforderung der Europäischen Union bezeichnen die Autoren die Akzeptanz der Bürger/innen zu gewinnen. Folgt man jedoch ihren Beispielen so ist dies vor allem auf wirtschaftlicher Ebene umzusetzen. Ganz am Ende wird noch der Verbraucherschutz als wichtiges Bürgerinnenthema genannt. Hier wird ein alter Fehler begangen, der gerade die Bürgerinnen und Bürger von der Europäischen Union entfremdet hat - nämlich die Politik der EU auf den Binnenmarkt und vielleicht noch auf Verbraucherrechte zu beschränken. Fragen der Sozial- und Bildungspolitik werden völlig ausgeklammert. Die Bedeutung der Außen- und Sicherheitspolitik wird betont wenn auch nicht elaboriert. Die wachsende Rolle von Nachhaltigkeitspolitik wird abgesehen von der en Voguen Klimadebatte in allen ihren Facetten völlig ausgeblendet.

Antidiskriminierungspolitik

So wird zum Beispiel die europäische Antidiskriminierungsgesetzgebung gebrandmarkt, da sie eindeutig dem Subsidiaritätsprinzip widerspreche. So sollen etwa Geschäfte und Restaurants bedarfsunabhängig behinderten gerecht umgebaut werden. Ein solches Gesetz sei laut der Verfasser ungerechtfertigt, da es sich hierbei um einen Vorgang ohne grenzüberschreitende Dimension handele. Hierauf ist zweierlei zu erwidern.

Zum einen gehört es bereits zu den Klassikern der Argumentation in der Binnenmarktgesetzgebung die Rolle von Grenzregionen innerhalb des Markts zu betonen. In einer EU von 27 Mitgliedstaaten können sich übrigens nur wenige Regionen in den großen Nationalstaaten tatsächlich als nicht-Grenzregion bezeichnen. Gleichzeitig kann es keine unterschiedlichen Gesetze zwischen Grenzregionen und Zentralregionen geben. Grenznahen Geschäften erstünde ein Wettbewerbsnachteil unterlägen sie strengeren Vorschriften als ihre Nachtbarn auf der anderen Seite.

Viel stärker wiegt für mich jedoch der Inhalt gerade der Antidiskriminierungsgesetzgebung speziell in der Behindertenpolitik. Es muss in ganz Europa zum Standard werden Gebäude behindertengerecht zu konstruieren. Genauso wie es Standard ist Geländer an Treppen zu montieren. Wenn europäisches Recht dazu dienen kann dies EU-weit durchzusetzen, so ist das zu begrüßen.

Umweltpolitik

Ein weiterer Dorn in den Augen der Autoren ist die europäische Umweltgesetzgebung. Hier zeigt sich erneut, dass es eher um die Kritik an der Sache geht, als um den Schutz der Subsidiarität. Es ist zu begrüßen, dass die Autoren den europäischen Emissionshandel loben und sich sogar eine Ausweitung auf Erzeuger und Importeure von Energieträgern wie Benzin, Diesel und Heizöl wünschen. Gleichzeitig fordern sie jedoch die Subvention von klimafreundlicher Energieerzeugung einzustellen. Die Subvention von diesen Technologien hat eindeutig grenzüberschreitende Dimensionen, ist also keine Frage der Subsidiarität. Gleichzeitig wäre es politisch Fatal eine so wichtige Zukunftstechnologie nicht aktiv zu fördern bis sie effizient genug ist alleine auf dem Markt zu bestehen. Der dramatische Klimawandel erfordert ein dramatisches Wachstum in diesen Bereich. Dies ist ohne Subventionen nicht zu erreichen.

Auch der Schlag gegen die Energiesparlampengesetzgebung der Europäischen Union geht meines Erachtens nach Hinten los. Unbestritten ist das Energiesparpotenzial von diesen Lampen übertrieben worden. Trotzdem kann immer noch deutlich Energie eingespart werden gegenüber herkömmlichen Glühbirnen. Hier muss Überzeugungsarbeit geleistet werden, denn die Kritik der Bürgerinnen und Bürger basiert auf ästhetischen Gründen für die es aber auch unter den Energiesparlampen Lösungen gibt. Dies ist aber gar nicht das Hauptargument der Autoren, sondern sie behaupten, dass das Einsparpotenzial durch Energiesparlampen deshalb verwirkt sei, weil es bei festen Deckelwerten im Emissionshandel auf anderen Ebenen wieder verloren ginge. Dies verschweigt jedoch die Möglichkeiten der Gesetzgeber Grenzwerte nach unten zu bewegen, sobald durch Fortschritt und andere Optimierung Effizienz gesteigert wurde.

Subsidiarität als Vorwand für eine Politik guten nachhaltigen Lebens

Nach der Lektüre des Aufsatzes von Herzog , Boltkestein und Gerken lässt sich festhalten, dass hier drei Wirtschaftsliberale die EU Binnenmarktspolitik groß halten. Zu Recht gehört dieser Politikbereich zu den Erfolgsgeschichten der Europäischen Integration. Auch der europäische Hang zu Überregulierung wird nicht unbegründet kritisiert. Es fragt sich nur ob die Autoren nicht einem Trugschluss unterliegen, wenn sie behaupten die Bürger würden sich deshalb nicht mehr für die EU interessieren, weil die Europäische Union mit zahlreichen neue Regulierungen in ihr tägliches Leben eingreift.

Was die Leute meiner Ansicht viel mehr bewegt, ist dass sich die Europäische Union gerade nur auf Marktregulation und mehr oder weniger wirtschaftsfreundlichen Verbraucherschutz beschränkt hat. Andere Bereiche werden hier wichtiger auch in der Wahrnehmung der Menschen. Dazu gehört das fairerweise auch von den Autoren genannte Feld der Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch Fragen von Antidiskriminierungsgesetzgebung, Fragen der Energie- und Ressourcensicherheit und des Umgangs mit der zunehmenden Verknappung natürlicher Ressourcen - eine Diskussion die all zu oft nur auf die Problematik des Klimawandels beschränkt wird. Tatsächlich aber Fragen nach einem guten nachhaltigen Lebens stellt.

Ihr Kommentar
  • Am 31. Januar 2010 um 17:12, von  Niklas Als Antwort Reaktion auf Herzog, Bolkestein, Gerken

    Auch wenn es prägnant ist etc, sollte man den 80%Gesetzgebungsmythos nicht weitertragen. Es sind 50% insgesamt, je nach Politikfeld.

    Siehe bspw. Töller http://www.eu-info.de/static/common/files/view/2804/Mythen%20und%20Methoden%20-%20Zur%20Messung%20der%20Europisierung%20der%20Gesetzgebung%20des%20Deutschen%20Bundestages%20jenseits%20des%2080-Mythos%20%20von%20Annette%20Elisabeth%20Tller.pdf

    Es relativiert also nicht die hohe Bedeutung des EU-Rechts und die innenpolitische Notwendigkeit, dass sich die nationalen Parlamente mehr damit beschäftigen. Trotzdem ist der 80% Mythos auch eine Waffe um eine Überregulierung darzustellen, die so gar nicht da ist.

  • Am 1. Februar 2010 um 10:09, von  Lars Becker Als Antwort Reaktion auf Herzog, Bolkestein, Gerken

    Lieber Martin,

    ich finde, dass ist eine durchaus treffende und gelungene Replik. Ein Einwand sei mir jedoch erlaubt: die Aussage, dass 80% aller Gesetze ihren Ursprung in der EU haben, sollten wir m.E. nicht unkritisch wiederholen, da es einigen Grund gibt, daran zu zweifeln. Siehe z.B. hier http://www.faz.net/s/Rub99C3EECA60D84C08AD6B3E60C4EA807F/Doc~ECE53A3E51DAD46E3AAFC3E6424FC109C~ATpl~Ecommon~Scontent.html oder http://www.fernuni-hagen.de/polis/download/lg3/europawahl-80proz-t_ller.pdf

    Wäre es wirklich so, dass 80% aller Gesetze einen europäischen Ursprung hätten, dann müsste man vermutlich schon alleine ob der hohen Quote überlegen ob Herzog et al. nicht vielleicht doch recht hätten.

  • Am 1. Februar 2010 um 12:14, von  Cédric Als Antwort Reaktion auf Herzog, Bolkestein, Gerken

    Die „80% nationaler Gesetze mit EU-Ursprung“ sind ein Mythos, eine Lüge, das ist Unsinn ! Eine Lüge, die sehr gern von EU-Lobbyisten und Beratern wiederholt wird, da sie ihre Arbeitsstelle rechtfertigt (und ich kenne mich aus !).

    Wir sollten endlich aufhören sie ständig zu wiederholen, weil eigentlich nur sie der Europa-Idee schadet.

    Lesen Sie bitte die zwei Berichte von Yves Bertoncini (Notre Europe) von Mai und Juni 2009 über das Mythos der 80%. Leider ist das Text auf Französisch. Ich übersetze für Sie einige der wichtigsten Absätze (und mit unzähligen Fehlern !) :

    „Die Vorstellung, dass 80% des Rechts -oder der auf nationaler Ebene geltenden Normen- von gemeinschaftlichen Ursprung ist, hat sich letztlich mit solch einer Geschwindigkeit ausgebreitet, dass sie immer sowohl für EU-Verächter wie für eifrige EU-Anhänger einer offensichtlichen Wahrheit gleichkommt. Wurde diese Erklärung jemals ernsthaft unterstützt? Wer könnte jetzt diese 80% nationales Rechts mit Europäischen Ursprung anführen? Es scheint schon auf den ersten Blick schwer ein Dutzend zu erkennen.

    „Die genauen Bewertungen der Auswirkungen des EU-Rechts waren immer maximalistisch, da detaillierte technische Analysen zu diesem Thema bisher nie geführt wurden. Diese Auswertungen beziehen sich jedes Mal auf Jacques Delors, der im Jahr 1988 vor der britischen Trade Union Congress berichtete:“Bis zum Jahr 2000, 80% des Wirtschaftsrechts, vielleicht sogar steuerlichen und sozialen wird von den europäischen Institutionen herkommen“„

    „Die letzten 20 Jahre hat die EU ungefähr 2.500 Rechtsakten (Regulierungen und Direktiven) pro Jahr herausgegeben, dagegen hat Frankreich 10.000 Rechtsakten mit gleicher genereller Geltung veröffentlicht. Das Verhältnis von den gemeinschaftlichen Normen zu der Gesamtzahl der in Frankreich angewandten Normen beträgt folglich 15% auf dieser Periode, und sogar nur 6% ausschließlich Normen in Bereichen der Landwirtschaft und Fischerei.“

    „Nur ein Viertel der in Frankreich umgesetzten EU-Direktiven hatten eine gesetzliche Geltung.“

    Ist diese Analyse nicht ein entscheindendes Argument gegen die schwache Kritik von Herren Herzog, Bolkestein und Gerken?

    Anstatt zu versuchen, auf dumme Fragen zu antworten, ist es Zeit, die Wahrheit über die EU wieder herzustellen!

    Bitte, sehe :
     La législation nationale d’origine communautaire : briser le mythe des 80%
    http://www.notre-europe.eu/uploads/tx_publication/Bref13-YBertoncini_01.pdf

     Les interventions de l’UE au niveau national : quel impact ?
    http://www.notre-europe.eu/uploads/tx_publication/Etud73-Y_Bertoncini-fr.pdf

  • Am 3. Februar 2010 um 14:15, von  Niklas Als Antwort Reaktion auf Herzog, Bolkestein, Gerken

    haha drei blöde und ein gedanke ;)

  • Am 5. Februar 2010 um 15:29, von  Julia Als Antwort Reaktion auf Herzog, Bolkestein, Gerken

    ....auf „dume Fragen“ zu antworten ist meiner Ansicht nach der erste und richtige Schritt in die Richtung, die „Wahrheit“ adäquat darzustellen. Daher danke für die vielseitigen Richtigstellungen im Artikel und nachfolgend danke für die Hinweise auf das wirkliche Verhältnis von nationaler und europäischer Gesetzestextes.

  • Am 8. Februar 2010 um 14:08, von  Cédric Als Antwort Reaktion auf Herzog, Bolkestein, Gerken

    Neue Abschätzung für den Französischen Fall:

     25% der französischen Gesetze beinhalten europäische Elemente;

     Nur 10% der Artikeln dieser Gesetze setzen die europäische Gesetzgebung um.

     Zusammenfassend, der Einfluss des Europäischen Rechtes beträgt 10% in den EU-Kompetenzbereichen.

    http://www.euractiv.fr/priorites-de-lue-elections/article/terra-nova-torpillelemythe-80-lois-françaises-origine-communautaire-002452

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