Wahltag 19. Dezember 2010 – Belarus‘ Blutiger Sonntag
Die Medien sind voller Bilder und Berichte und langsam stellt sich das Verständnis der Ereignisse ein. Alle meine Schlussfolgerungen basieren entweder auf persönlichen Eindrücken, oder auf Informationen aus Quellen, denen ich vertrauen kann.
Menschen wurden ohne Vorwarnung angegriffen und alle Verletzten wurden auf den Kopf geschlagen, sodass man sagen kann, dass die Miliz tödliche Verwundungen hervorrufen wollte.
Vor zwei Jahren habe ich einen Bericht über einen anderen Protestmarsch geschrieben. Die jetzigen Vorfälle sind also keine Ausnahme.
Wir haben eine Militäroperation gegen Zivilisten erlebt.
Man könnte meinen, dass kein einziges Land der Welt seine eigenen Bürger brutaler angreifen würde als eine fremde Armee, aber die Ereignisse vom Sonntag zeigen, dass ein Land dies bereits getan hat. Wir haben eine Militäroperation gegen Zivilisten erlebt, die durch unidentifizierte Männer mit Handfunkgeräten provoziert wurde, die Glasscheiben im Eingangsbereich des Regierungsgebäudes zerstört haben. Dann fing der Horror an.
Erinnert euch daran, wie der Diktator seine Macht zu Beginn seiner dritten Amtszeit verteidigt hat (hier einige Bilder) und stellt euch vor, dass das gleiche wieder geschehen ist.
Mehr als 600 Menschen wurden geschlagen und verhaftet und dann in kalten Zellen und verriegelten Fahrzeugen bei -10°C bis zum Morgen festgehalten. Am folgenden Tag wurden sie zu zwei Wochen Gefängnis oder einer Geldstrafe in Höhe eines durchschnittlichen Monatseinkommens verurteilt. Die Gerichte haben nicht mehr als fünf Minuten für jeden Angeklagten aufgewendet. Die Verwandten dürfen die Gefangenen nicht sehen und auch nicht ins Gericht kommen. Sogar Kriegsgefangene genießen mehr Rechte und Schutz. Es ist eine Schande ein Bürger eines Landes zu sein, dass von einem Diktator regiert wird.
Ein Polizist, der nicht in die Gewalt verwickelt war, wurde während des Polizeieinsatzes verletzt, versuchte aber trotzdem andere zu beschützen. Am nächsten Tag wurde seine Wohnung gestürmt und jetzt ist auch er ein Opfer des Regimes. Dieses Video zeigt deutlich Details und Unterschiede in der Ausrüstung, sodass die an der Aktion beteiligten Milizionäre aus dem Ausland zu stammen scheinen. Wenn dem so wäre, könnte nur Russland derartige Einheiten bereitgestellt haben.
Bei Sonnenaufgang zeigte sich der weiße Schnee übergossen mit rotem Blut. Unsere verbotene Flagge hat die gleichen Farben.
Viele Menschen wurden während der Nacht von bewaffneten Personen direkt aus ihren Büros, Häusern und sogar aus Krankenhäusern entführt. Die Entführer waren nicht zu identifizieren und gaben keinerlei Erklärungen. Dieses Schicksal ereilte alle Parteiaktivisten (der Christdemokratischen Partei Belarus, der in diesem Jahr zuvor die Registrierung verweigert worden war), die während der Nacht nicht ihre Büros verlassen hatten. Aus unserem Büro wurde sogar das Mobiliar konfisziert. Auch alle Redakteure von Charter97 wurden verhaftet, sodass es von ihnen keine Nachrichten mehr geben wird. Sie konnten nur am ersten Tag berichten.
Gefängnisse und Krankenhäuser weigern sich irgendwelche Angaben zu ihren Insassen bzw. Patienten zu machen, während die ersten Meldungen über Todesfälle erscheinen. Hier ist ein unübersetzter Artikel (vielleicht hilft Google Translate).
Die heutigen Nachrichten zeigen, dass der Widerstand weitergeht, also werden weitere Aktualisierungen folgen.
Jetzt hält mich nur noch starker Tee wach.
Tag 2, 20. Dezember 2010 – ähnliche Gewalt mit deutlich weniger Opfern
Nach der brutalen Gewalt am Vortag hatten einige Menschen den Mut, wieder zum selben Platz zu kommen. Ihre Zahl war hundertmal kleiner und entsprechend größer sollte der Respekt vor ihnen sein. Einer Handvoll der Personen, die die Proteste am Vortag angeführt hatten, war es gelungen, einer Verhaftung zu entgehen, und diese Leute waren nun wiederum im Zentrum des Geschehens. Nach nur fünf friedlichen Minuten erschienen Milizionäre in schwarzen Uniformen und setzten erneut ähnliche Gewalt ein. Alle Teilnehmer und einige Personen, die gerade an einer nahe gelegenen Bushaltestelle standen, wurden in Transporter gesteckt. Die Verfolgungen dauerten eine Stunde an und schließlich wurden alle Anwesenden einschließlich der Journalisten aufgefordert, zu gehen. Der Platz wurde vollkommen geräumt.
Radio Liberty gelang es, einige Bilder und Videos zu machen und einige live Stimmen von Bürgern zu veröffentlichen. Leider sind die Kommentare voller gegenseitiger Verurteilungen. Die Bürger sagen nur, dass sie vollkommen erschöpft und empört über die ständige Gewalt sind, während die Behörden gleichermaßen erschöpft davon sind, die Menschen zu überzeugen, dass sie ein glückliches Leben haben, wenn sie mit Gummiknüppeln auf den Kopf geschlagen werden. Unsere Diktatur toleriert nicht einmal mehr die kleinsten Zeichen von Widerspruch.
Der deutlichste Beweis zeigt wie der Präsidentschaftskandidat Vladimir Neklyaev von einer geheimen Militäreinheit mit unbegrenzten Befugnissen zusammengeschlagen wird. Die Tatsache, dass die Behörden solche Einheiten einsetzen und deren Aktivitäten niemals untersucht werden, zeigt den wahren Zustand der Bürgerrechte und Freiheit in diesem Land, das von einem grausamen Diktator regiert wird.
Nach dieser Reportage wird auch meine eigene Zukunft unsicher. Politische Strafgesetze können gegen mich verwandt werden und die gegenwärtige Erfahrung zeigt, dass aus jedem Anlass eine Anklage fabriziert werden kann.
Ich werde mit meinen Veröffentlichungen bis zum letzten Moment weitermachen.
Sergei (Minsk)
Zur aktuellsten —>Übersetzung.
Den neusten Bericht gibt es in unserer englischen Ausgabe.
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