Die Europäische Union (EU) hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 klimaneutral zu werden – doch über den Weg dorthin herrscht weiterhin Uneinigkeit. Das Europäische Parlament hat im Oktober 2020 einen Gesetzesentwurf für ein EU-Klimagesetz verabschiedet. Dieser sieht unter anderem ein CO2-Budget, einen europäischen Klimaschutzrat und ein einklagbares Recht auf Klimaschutz vor. Im Rat der EU, in dem die Mitgliedsstaaten durch ihre Umweltminister*innen vertreten sind, wurden Teile des Entwurfes ebenfalls angenommen.
Ein Streitpunkt war für lange Zeit die Höhe der angestrebten Senkung der CO2-Emissionen bis 2030. Das Europäische Parlament hat mit seinem Beschluss den Vorschlag der Kommission zu den Emissionsreduktionszielen für 2030 von 50 Prozent auf 60 Prozent verschärft. Im Oktober letzten Jahres sprachen sich elf Staats- und Regierungschef*innen, unter anderem aus Frankreich, Spanien und den Niederlanden, dafür aus, ein Reduktionsziel von „mindestens 55 Prozent“ bis 2030 festzulegen. Nach langem Ringen konnten sich die Mitgliedstaaten auf dem EU-Gipfel Anfang Dezember auf diese 55 Prozent einigen.
Einige zentral- und osteuropäische Staaten, allen voran Polen, sahen den aktuellen Entwurf lange Zeit kritisch. Sie schätzten das erhöhte Ziel für ihr Land als unrealistisch ein und fürchteten, dass harte ökologische Richtlinien und steigende Energiepreise ihre Wirtschaftsmodelle gefährden könnten.
„Uns ist klar, dass die EU-Staaten in unterschiedlichen Startpositionen stehen, was den Übergang zu Klimaneutralität betrifft“, so die EU-Kommissarin für Energie, Kadri Simson. Die Kommission versuchte Wege zu finden, alle Positionen einzubeziehen und den Befürchtungen derjenigen entgegenzukommen, die sich vor starken Strukturbrüchen fürchteten. Der neue „Just Transition Mechanism“ soll durch einen solidarischen Ausgleich die wirtschaftlichen Folgen einer Umstellung auf Klimaneutralität und Kreislaufwirtschaft in strukturschwachen europäischen Regionen abfedern.
Am Ende wurde auf dem EU-Gipfel die Zustimmung der Osteuropäer*innen mit mehreren Milliardentöpfen erkauft. Neben dem Just Transition Fund wird es einen Modernisierungsfonds geben, der aus den Einnahmen des Emissionshandels gespeist wird. Dazu kommt der 750 Milliarden schwere Corona-Aufbaufonds, der zu mindestens 30 Prozent für die Umsetzung der Klimaziele genutzt werden soll.
Gas als Zwischenlösung auf dem Weg zum Kohleausstieg?
Doch auch nach der Festlegung der Klimaziele herrscht weiter Uneinigkeit zwischen den europäischen Staaten: Die EU-Mitgliedsländer verfolgen bei ihren Strategien zur Erreichung der Ziele unterschiedliche Ansätze. In den Bemühungen um eine Verringerung des CO2-Ausstoßes hinterlässt der Kohleausstieg eine gravierende Lücke im Energiebedarf Deutschlands. Aktuell kann dieser noch nicht allein durch erneuerbare Energien gedeckt werden. „Wenn wir aus der Kohle aussteigen, wenn wir aus der Kernenergie aussteigen, dann müssen wir den Menschen ehrlich sagen, werden wir mehr Erdgas brauchen.“, sagte die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel (CDU) 2019 beim Weltwirtschaftsforum.
Auch andere europäische Staaten wollen übergangsweise auf Gaskraftwerke setzen, denn diese sind vergleichsweise kostengünstig und belasten die Umwelt weniger stark als Kohlekraft. Doch auch sie setzen durch Verbrennung des fossilen Rohstoffes gigantische Mengen an CO2 frei, ihr Ausstoß in Europa ist schon jetzt höher als der durch Kohleverbrennung. Kritiker*innen argumentieren außerdem, ein Ausbau der Gasinfrastruktur würde Investitionen in erneuerbare Energien bremsen, und somit langfristig das Ziel der Klimaneutralität gefährden.
Nicht nur aus Gründen des Klimaschutzes ist die Fokussierung auf Erdgas hoch umstritten. Die EU kann ihren Gasbedarf nur zu 18 Prozent aus eigener Förderung decken – der Rest wird importiert. Etwa 40 Prozent davon stammen aus Russland, Tendenz steigend. Die Sicherstellung der Versorgung mit Energie ist die Kernaufgabe der Energiepolitik. Dazu gehört auch, abzuwägen, wie gut man sich auf internationale Partner*innen verlassen kann. Wer auf russisches Gas angewiesen ist, macht sich auch geopolitisch abhängig. Deutschland steht in diesem Zusammenhang mit dem Bau der neuen Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 besonders in der internationalen Kritik.
Und dennoch: Zumindest mittelfristig wird Gas einen Großteil europäischer Energie liefern. Wie lange der Wandel zu erneuerbaren Energien dauern wird, hängt auch stark von finanziellen Anreizen ab. Noch ist nicht entschieden, ob auch Projekte zum Ausbau der Gasinfrastruktur von der EU als „grün“ deklariert werden und somit durch den Just Transition Fund unterstützt werden können.
Wie hältst du’s mit der Atomkraft?
Atomkraft erscheint aus deutscher Perspektive wie ein Thema aus einer vergangenen Zeit – das ist aber nicht überall in Europa so. Unmittelbar nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima in 2011 hatte die damalige schwarz-gelbe Regierungskoalition in Deutschland den Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen. Ende 2022 soll das letzte Atomkraftwerk vom Netz gehen und die Diskussion um die friedliche Nutzung von Atomkraft ist in Deutschland größtenteils aus der öffentlichen Debatte verschwunden.
Atomkraft ist Teil des Energiemixes in 14 der 27 Mitgliedsstaaten und macht insgesamt rund 30 Prozent der Energieproduktion der EU-Staaten aus. Um die Abhängigkeit von Energieimporten zu verringern, wurde in Frankreich seit den 1970er Jahren von Präsidenten unterschiedlichster politischer Couleur der Ausbau der Atomkraft vorangetrieben. Der amtierende Präsident Emmanuel Macron etwa nennt den Nuklearsektor einen „der großen technologischen und wirtschaftlichen Trümpfe Frankreichs“. Und auch für die französische Umweltbewegung war die Frage nach einem Ausstieg aus der Atomkraft weniger wichtig als für die deutsche.
Die Anhänger*innen von Nukleartechnologie zur Energiegewinnung argumentieren mit einer geringen Gefährlichkeit. Trotz der Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima sei die Gefahr (gemessen an der Anzahl an Toten) vergleichbar mit erneuerbaren Energien und um circa 300 Mal geringer als bei fossilen Energieträgern. Eine Studie des US-amerikanischen National Bureau of Economic Research (NBER) etwa kam zu dem Ergebnis, dass der deutsche Atomausstieg und die damit einhergehende stärkere Nutzung von Kohleenergie durch einen Anstieg der Luftverschmutzung jährlich zu etwa 1.100 zusätzlichen Toten führe. Atomkraftgegner*innen betonen hingegen die unberechenbare Gefahr eines Supergaus und die weiterhin ungelöste Endlagerfrage.
In der Europäischen Union treffen diese beiden konträren Blickweisen aufeinander. Wie ist die EU damit umgegangen? Unterschiedlich. Mal gewinnt die eine Seite, mal die andere, meistens werden Kompromisse gefunden – so auch dieses Mal. Den Mitgliedstaaten wird zugestanden, einen individuellen Energiemix zu finden, die Atomkraft ist dabei explizit miteingeschlossen. Der EU-Kommissar für Klimaschutz, Frans Timmermans als Hauptverantwortlicher für den Green Deal, stellte klar, dass die EU neuen Atomkraftwerken nicht im Weg stehen werde. Er forderte jedoch die Mitgliedstaaten auf, auch die Risiken der Technologie in ihrer Entscheidung zu beachten. Aus der Förderung durch den Just Transition Fund ist der Bau von Atomkraftwerken jedoch ausgeschlossen.
Viele Fragen sind noch offen in der europäischen Klimastrategie, und wie immer gestaltet sich die Suche nach einem Konsens zwischen den 27 beteiligten Ländern schwierig. Doch auch wenn letztlich ein Kompromiss gefunden werden kann, ist dies in jedem Fall nur ein Etappensieg. Denn wie bei jedem guten Vorsatz gilt auch hier: Es zählt nur, was auch umgesetzt wird.
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