Aufwachsen in der DDR

, von  Bruno van den Elshout

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Aufwachsen in der DDR
Eastside Gallery im heutigen Berlin. Foto: Unsplash / Richard Bell / Unsplash License

Menschen aus Westdeutschland nehmen in der Regel an, dass eine Kindheit in der DDR eher problematisch gewesen sein musste. Zurecht, ostdeutsche Kinder hatten im allgemeinen weniger Spielzeuge und eingeschränkte Möglichkeiten in den Urlaub zu fahren. Ob dies zu einer unglücklicheren Kindheit führte, bleibt offen. Eik (29), geboren und aufgewachsen in der DDR, genoss seine Zeit als Kind und hätte nicht gewollt, dass sie anders verlaufen wäre. Hier ist seine Sicht darauf, wie sich Deutschland nach dem Fall der Mauer veränderte.

Dieser Beitrag ist im Original am 13. August 2009 erschienen. Folgend auf den 9. November in seiner Funktion als Jubiläum und Gedenktag bringen wir den Beitrag heute erneut.

„Ich wurde 1978 geboren und verbrachte meine Kindheit in Penig, einer kleinen Stadt im südlichen Teil Ostdeutschlands. Mein Vater arbeitete in einer Fabrik, meine Mutter in einem Geschäft. Wir wohnten in einem typisch ostdeutschen Wohnblock, wie die meisten ‚normalen’ Leute dieser Zeit. Das politische System, in dem ich damals lebte, war mir nicht sonderlich bewusst. Ich begann erst in meinem späteren Leben darüber nachzudenken, als ich merkte, wie sehr sich der sozialistische Osten vom Westen unterschied.“

Die Pionierbewegung

„Rückblickend ist es deutlich zu sehen, wie stark der Sozialismus in das System der Bildung hineinwirkte. Schulen waren in der DDR nicht nur Ausbildungsstätten im engeren Sinne des Wortes. Neben dem regulären Unterricht wurden sogenannte ‚Pionier-Nachmittage’ zu unterschiedlichen Themen organisiert. Einmal konnte jeder sein Haustier mitbringen, ein anderes Mal sprachen wir über unsere Ferien. Ebenso verbrachten wir einige Pionier-Nachmittage spielend im Wald. Diese Aktivitäten als Pioniere dienten zur ersten Vorbereitung für Kinder, um später ‚gute sozialistische Bürger’ zu werden. Zu besonderen Anlässen wie dem 1. Mai trugen wir Pfadfinder-ähnliche Uniformen, welche je nach Altersgruppe unterschiedlich aussahen. Ich trug dabei zunächst als ‚Jungpionier’ ein weißes Hemd und ein blaues Halstuch, in der nächsthöheren Gruppe, den ‚hälmannpionieren’ ein weißes Hemd mit rotem Halstuch.

„Die älteren Schüler trugen blaue Hemden. Sie waren Mitglieder der FDJ, der Freien Deutschen Jugend. Die FDJ-ler organisierten manchmal Veranstaltungen für uns Jüngere oder hielten Aufsicht über uns in den Mittagspausen. Wir bewunderten sie sehr. Sie waren älter und erfahrener als wir, was uns zu ihnen aufschauen ließ. Ich konnte es damals kaum erwarten, einer von ihnen zu werden, aber das geschah nie: das Regime brach zusammen, bevor ich an der Reihe war.“

„Neben diesen Pionieraktivitäten gab es in jeder Klasse eine Art Gremium mit einem Vorsitzenden und einem Stellvertreter. Jeder wurde in irgendeiner Weise in die inneren Aufgaben der Schule einbezogen und so zu einem Teil des Systems. In der Schule lernten wir auch die Grundlagen des sozialistischen Umgangs miteinander, einschließlich das richtige Grüßen. Jeden Morgen, wenn der Lehrer den Klassenraum betrat, mussten wir aufstehen. Er rief dann ‚seid bereit’ worauf wir mit ‚immer bereit’ antworteten. Es gab nur einen Lehrer bei uns, der nicht diese Regel befolgte: Er grüßte uns einfach, indem er ‚guten Tag’ sagte. Wir fanden ihn deswegen ziemlich cool.“

Arbeit und Reisen

„Vor 1989 waren nicht nur die Schulen, sondern auch die Betriebe stark in das gesellschaftliche Leben eingebunden. Die Volkseigenen Betriebe (VEB) unterhielten Sportvereine –welche dann entsprechend Motor, Dynamo oder Traktor hießen –und stellten für ihre Beschäftigten auch Urlaubsplätze bereit. Sie organisierten ebenso Ferienlager für die Kinder ihrer Beschäftigten, was für mich bedeutete, dass ich meine Ferien mit den Kollegen meines Vaters verbrachte. Ich und meine Familie verreisten meistens an nicht weit entfernte Orte, da internationale Reisen sehr beschränkt waren. Wir fuhren häufig in die Tschechoslowakei, einmal schafften wir es bis nach Ungarn zu reisen. Weiter entfernte Ziele schienen nicht für normale sonder eher privilegierte Leute wie Parteimitglieder vorbehalten zu sein, welche dann nach Jugoslawien, Rumänien und Bulgarien reisen konnten.

„Die ‚freie Körper-Kultur’ oder FKK war so etwas wie die ostdeutsche Antwort auf beschränkte Möglichkeiten ins Ausland zu reisen. FKK bedeutete im Grunde, dass sich Menschen entblößten, um ihre Freiheit zum Ausdruck zu bringen und auszuleben. Meine Eltern gingen, wie viele Ostdeutsche, sehr gern dieser Form der öffentlichen Nacktheit nach; ich persönlich brachte es nie wirklich fertig, es sonderlich zu mögen. Große Teile der FKK-Tradition verschwand nach der Wiedervereinigung, wobei man in Ostdeutschland immer noch ausgewiesene FKK-Strände an der Ostsee finden kann.“

„Auch wenn normale Leute –im Gegensatz zu Sportlern, Künstlern und Diplomaten –nicht nach Westeuropa reisen durften, ist die Vorstellung, dass Ostdeutsche nichts über Westdeutschland wussten ein Mythos. Auch vor 1989 konnten die meisten Haushalte westdeutsche Fernsehkanäle empfangen. Sehr viele Menschen taten das –auch meine Eltern, allerdings waren sie so vorsichtig, nicht mit jedem darüber in der Öffentlichkeit zu sprechen, um keine Schwierigkeiten zu bekommen. Ostdeutsche wussten natürlich, dass Westdeutsche größere Autos und schönere Häuser hatten. Im Westen gab es dafür Arbeitslosigkeit und Armut. Bei uns gab es keines dieser Extreme, im Positivem wie im Negativem.“

Die „Wende“

„1989 war ich 11 Jahre alt. Die Wiedervereinigung Deutschlands fiel mit anderen Veränderungen in meinem Leben zu dieser Zeit zusammen. Der politische Wandel im Land bedeutete für mich persönlich zunächst keinen großen Bruch, da sich für mich gerade durch den Wechsel von der Grundschule auf das Gymnasium ohnehin viel veränderte. Ich denke, der Einfluss des Systemwechsels war für andere Menschen, die gerade irgendwo mittendrin steckten –im Gymnasium, im Studium, oder in den ersten Jahren ihrer Karriere –persönlich spürbarer als für mich. Bei mir vermischte sich der politische Wandel mit einem natürlichen Übergang vom Kind zum Jugendlichen.“

„Viele Menschen in meinem Alter betrachten die Wiedervereinigung als eines der aufregendsten und einprägsamsten Kindheitserinnerungen, besonders jene, die zu dieser Zeit in Berlin lebten. Die Jahre nach diesem magischen Moment sind etwas schwieriger zu beschreiben. Seit 1989 glich sich Ostdeutschland nach und nach dem westdeutschen Lebensstandard an. Nicht nur was Autos und Häuser betrifft, sondern auch in der Einstellung zum Leben. Ostdeutsche strebten verstärkt nach materiellem Wohlstand, indem sie alle Dinge kaufen wollten, die sie zuvor nur im TV gesehen hatten. Gleichzeitig schienen sie mehr und mehr ihren Lebensstandard vor 1989 zu bedauern. Meine Familie und ich zogen, sobald es uns einigermaßen möglich war, aus dem grauen Wohnblock, in dem wir lebten, aus. Viele andere taten das auch: sie entledigten sich rasch von allem, was sie an die DDR-Zeit erinnerte. Es galt die Devise: Das Leben beginnt von neuem.“

Gegenwart und Zukunft

„Die sogenannte ‚Wende’ brachte Ostdeutschland einen neuen Energieschub, aber auch eine Reihe von Ängsten. Frühere volkseigene Betriebe wurden durch größere Konzerne aus dem Westen übernommen und nach marktwirtschaftlichen Erfordernissen umstrukturiert. Dank massiver Unterstützung aus Westdeutschland gelang die Transformation viel schneller und effektiver als in anderen osteuropäischen Ländern, auch wenn die dazu ergriffenen Maßnahmen oft drastisch waren. Zu sozialistischen Zeiten war eine Arbeitsstelle so etwas wie ein Projekt auf Lebenszeit und ebenso eine lebenslange Gewissheit. Der Wandel ließ von dieser Gewissheit nicht mehr viel übrig. Die Titelblätter der Zeitungen kündeten von Massenentlassungen, die häufig Hunderte von Menschen betrafen. Mein Vater hatte das Glück, seine Arbeit zu behalten –in einer Fabrik, in der Getriebe hergestellt werden. Er ist einer von wenigen, die bis heute den selben Arbeitgeber wie vor 1989 haben.“

„Die Menschen mussten die Stellenkürzungen als eine Folge des Fortschritts hinnehmen. Seit einiger Zeit beginnen jedoch Ostdeutsche, die nicht vom Wandel profitieren konnten, nach der Rückkehr sozialistischer Werte zu rufen. Viele, darunter vor allem jene, denen es nicht gelang, den grauen Plattenbauten zu entkommen, fühlen sich durch den Kapitalismus betrogen. Der Wandel versprach ihnen viel und gab ihnen wenig. Ihre ‚Ostalgie’ geht so weit, dass sie die negativen Aspekte des Regimes ausblenden und ausschließlich die teilweise realisierten Ideale wie finanzielle Sicherheit und den geringen Unterschieden zwischen den gesellschaftlichen Schichten betonen.“

„Für mich stehen eher die positiven Aspekte der Entwicklung im Vordergrund. Ostdeutschen meiner Generation wurden durch den Lauf der Geschichte mit einer Reihe wertvoller Qualitäten ausgestattet. Wir haben zunächst einen gewissen Sinn für Gemeinschaft geerbt, und wir haben gelernt, uns selbst zu beschäftigen –ohne große Ablenkungen. Später haben wir gelernt Verantwortung für unsere Entscheidungen zu übernehmen und flexibel zu sein. Wir wissen, dass bestimmte Werte im Leben nicht selbstverständlich sind. Ich habe Politikwissenschaft studiert und bin durch Europa gereist –ich habe auch im Ausland gelebt. Ich bin in der Lage aus Optionen zu wählen, die meine Eltern niemals hatten. Es ist nicht mehr das System, welches über meinen Weg entscheidet, ich bin es selbst! Und ich bin bereit die Chancen meiner Freiheit zu nutzen.“

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