Sehr geehrter Herr Aleksandar Vučić,
wer an alten Gewissheiten rührt, muss zwangsläufig mit Gegenwind rechnen. Mit Ihrem Mitte Juli veröffentlichten Text über den Kosovo in der serbischen Boulevardzeitung „Blic“ haben Sie in den letzten Wochen tatsächlich viel Staub aufgewirbelt.
„Es ist die Zeit gekommen, dass wir als Volk damit aufhören, wie ein Strauß den Kopf in den Sand zu stecken, dass wir versuchen, realistisch zu sein“, schreiben Sie dort und verbinden Ihre Kritik mit der Aufforderung, nicht darauf zu warten, „dass uns das in die Hände fällt, was wir schon längst verloren haben“.
Bereits nach der Präsidentschaftswahl im Mai hatten Sie einen Sinneswandel in der Kosovo-Frage gezeigt, den ihre Wähler aus dem nationalistischen Lager so vermutlich nicht für möglich gehalten hätten. Sie sprachen davon, dass sich Serbien von der „mythischen Herangehensweise“ gegenüber dem Kosovo verabschiedet. „Ich werde die staatliche Einheit Serbiens bewahren, aber ich werde stets bereit sein, mit den Albanern im Kosovo zu sprechen“, so wurden Sie nach ihrem Wahlsieg zitiert.
Sie fordern also eine realistischere Sicht der Serben auf den Kosovo. Eine Sicht, die nicht von nationalistischen Mythen geprägt ist, die sich auf die Schlacht auf dem „Amselfeld“ (Kosovo polje) von 1389 beziehen, stattdessen von den tatsächlichen Umständen der Gegenwart und den Erfordernissen der Zukunft ausgehen.
Wer sich mit der Gegenwart des Kosovo realistisch auseinandersetzt, muss eingestehen, dass die Bevölkerung des Kosovo sich heute überwiegend aus Kosovo-Albanern zusammensetzt. Abgesehen von den serbisch besiedelten Landesteilen – in denen die letzte Volkszählung 2011 boykottiert wurde – sind die Kosovo-Albaner mit gut 90 Prozent im ganzen Land die stärkste ethnische Gruppe. Diese Tatsache anzuerkennen schließt die Forderung, die Rechte und den Schutz der Minderheiten in einem multiethnischen Staat Kosovo zu garantieren nicht aus.
Was die Erfordernisse der Zukunft anbelangt, so ist klar, welcher Entwicklung Sie mit diesem Dialog innerhalb Serbiens auf die Sprünge helfen wollen. Die Anerkennung des Kosovo gilt seit Jahren als Bedingung für den EU-Beitritt Serbiens.
Nach den Präsidentschaftswahlen im April sitzen Sie, Herr Vučić fest im Sattel. Über die Betrugsvorwürfe, Ihre Omnipräsenz in den serbischen Medien vor der Wahl und das Vorgehen gegen kritische Stimmen im Land wurde schon an anderer Stelle geschrieben. Europäische Staatschefs schätzen Sie trotz alledem als Partner, da Sie in der notorisch angespannten Situation auf dem Balkan für Stabilität sorgen. Die Wortneuschöpfung Stabilokrat soll diese Ambivalenz ausdrücken.
Sie fordern einen Dialog innerhalb Serbiens über die Haltung zum Kosovo. Das heißt nicht, dass die Anerkennung des Kosovo als souveräner Staat, wie sie im Großteil der internationalen Gemeinschaft ab 2012 vollzogen wurde, auf dem Fuße folgt. Aber es tut allemal Not, eine Diskussion anzustoßen, über einen Prozess, der sowieso aussteht.
Insbesondere bei der jungen Generation, die wochenlang gegen ihre Wiederwahl protestiert hat, sind Sie unbeliebt. Ihrem Vorstoß in der Kosovo-Frage kann man zugute halten, dass Sie Ihre Machtposition nutzen, um ein Problem sachlich anzugehen, dass sich in historischen Debatten verselbständigt hat. Gerade der jüngeren Generation wäre es zu wünschen, wenn ihre Zukunft nicht von den Feindschaften ihrer Eltern und Großeltern abhinge.
Arthur Molt
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