Sehr geehrte Frau Thyssen,
es muss frustrierend sein, EU-Kommissarin für Beschäftigung und Soziales sein. Da hat man eine Spitzenposition in einem Staatenverbund inne, der sich selbst bereits in Artikel drei seines grundlegenden Lissabon-Vertrags zu Solidarität und sozialem Handeln, in Artikel neun zur Schaffung einer sozialen Marktwirtschaft verpflichtet. Aber gleichzeitig schreibt der Vertrag über die Arbeitsweise der EU vor, dass Maßnahmen der EU im Rahmen der Sozialpolitik ausschließlich ergänzend zu nationalen Maßnahmen gelten sollen, anstatt diese zu ersetzen. Anspruch und Wirklichkeit liegen wohl in wenigen europäischen Politikfeldern, außer vielleicht in den Auswärtigen Angelegenheiten bei Ihrer Kollegin Federica Mogherini, so weit auseinander.
Die Entsenderichtlinie ist einer der Gründe, die EU sei unsozial und ungerecht. Seit 1996 erlaubt diese Regelung Firmen mit Sitz in einem EU-Mitgliedstaat, Arbeitnehmer*innen auf eine Dauer von bis zu zwei Jahren ins europäische Ausland zu entsenden, ohne diese dort vollständig in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Konkret bedeutete dies: Trotz gewisser Standards, wie etwa der Pflicht zur Zahlung des gesetzlich geltenden Mindestlohns, sind entsandte Arbeitskräfte starken Nachteilen ausgesetzt - und verdienen laut Erhebungen der EU etwa nur die Hälfte des Gehalts ihrer nicht entsandten Kolleg*innen. Diese Erhebungen kennen Sie natürlich, weil sich in der von Ihnen geleiteten Generaldirektion in Auftrag gegeben oder durchgeführt wurden. Aber genauso kennen Sie auch das Narrativ der EU und die Auslegung des Europäischen Gerichtshofs, wenn es um soziale Rechte von Arbeitnehmer*innen geht: im Zweifel für den freien Markt, im Zweifel für den Kapitalismus. Binnenfreiheiten in Europa sind etwas großartiges, vielleicht die größte Errungenschaft der EU oder zumindest die sichtbarste. Aber das bedeutet nicht, dass sie einem Raubtierkapitalismus Tür und Tor öffnen dürfen. Im Gegenteil: Es bedeutet, dass die EU und ganz besonders Sie als zuständige Kommissarin dafür verantwortlich sind, dass diese Freiheiten mit der Idee eines sozialen Europas vereinbar sind.
Aus diesem Grund ist es richtig, dass die Arbeits- und Sozialminister*innen vergangene Woche für die Reform der Entsenderichtlinie gestimmt haben. Damit werden entsandte Arbeitnehmer*innen endlich genauso bezahlt wie ihre nicht entsandten Kolleg*innen, weil sie etwa Schlechtwettergeld oder sonstige Zuschläge erhalten und nicht nur den gesetzlichen Mindestlohn - dies ist wohl die größte Errungenschaft. Aber auch die Beschränkung der Entsendedauer auf zwölf Monate mit der Möglichkeit der einmaligen Verlängerung, die allgemeine Gültigkeit von Tarifverträgen und die Gleichstellung mit lokalen Arbeitnehmer*innen sind ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, da sie für Bürger*innen erfahrbar machen, dass Europa für sie eben nicht wirtschaftliche Nachteile bedeutet, sondern eine Chance ist. Die neue Entsenderichtlinie ist eine Maßnahme, mit der nicht nur die Generation Erasmus, sondern auch Facharbeiter*innen die Möglichkeit bekommen, eine europäische Identität zu entwickeln. Und hier kommen Sie ins Spiel: Es ist kein Geheimnis, dass gute Politik gute Kommunikation braucht. Setzen Sie sich dafür ein, dass Gewerkschaften, Tarifverbände, Betriebsräte, und auch Unternehmen diese Idee kommunizieren. Starten Sie eine Kommunikationskampagne, denn diese Idee ist definitiv zu gut, um sie in Aktenbergen und auf Schreibtischen verstauben zu lassen.
Mit der Entsenderichtlinie werden Sie es auch in Zukunft nicht einfach haben. Der Rat konnte die Richtlinie nur deshalb reformieren, weil dafür eine qualifizierte Mehrheit ausreicht, denn gerade aus Osteuropa kommt scharfe Kritik an den Neuerungen. Hier fürchtet man vor allem, dass der heimische Arbeitsmarkt für Firmen unattraktiv werden könnte, da nun die Umsiedlung des Firmensitzes in osteuropäische Länder und die anschließende Entsendung von Arbeitnehmer*innen nach Westeuropa dahingehend unattraktiv sind, dass die Entsendung für Firmen nun kostspieliger wird und sich damit ein Firmensitz in Osteuropa weniger rentiert. Und gerade hier müssen Sie mit Ihren Kolleg*innen in der Kommission, die Sie das Initiativrecht für EU-Rechtsakte haben, ansetzen: Bietet sich nicht genau hier ein Gelegenheitsfenster, an der europäischen Integration weiterarbeiten, an der Kohäsionspolitik, oder tatsächlich einer europäischen Säule für soziale Rechte? Die Staaten Osteuropas werden Zugeständnisse wollen - kommen Sie Ihnen doch entgegen, indem Sie ihnen mehr Integration anbieten und sie nicht alleine lassen mit möglichen wirtschaftlichen Konsequenzen.
Natürlich kommt Kritik aus der Wirtschaft, die sich von Bürokratiebergen bedroht sieht und Verluste fürchtet. Natürlich werden in den nächsten Tagen noch mehr Lobbyist*innen als sonst vor Ihrer Tür stehen und versuchen, Sie zu einer wirtschaftsfreundlicheren Haltung bei neuen Initiativen zu bewegen. Verstehen Sie mich nicht falsch, Interessengruppen sind wichtig für den europäischen politischen Prozess - aber geben Sie in diesem Fall nicht mächtigen Arbeitgeber*innenverbänden oder Großunternehmen nach. Das wäre nicht nur für Ihre Glaubwürdigkeit, sondern auch für die Idee eines sozialen Europas fatal.
In den nächsten Jahren wird noch einiges auf Sie zukommen. Immerhin haben Sie Zeit: Bisher sind drei Jahre für die Transposition der Richtlinie ins nationale Recht vorgesehen. Das bedeutet viel Spielraum für Kritiker*innen und Lobbyist*innen, wenn schon nicht auf europäischer, dann auf nationaler Ebene. In einer Rede am Montag sagten Sie, dass Sie die Idee einer europäischen Säule für soziale Rechte unterstützen. Der französische Präsident hat die Gestaltung von Europa, einem sozialen Europa, zu seiner wohl wichtigsten Aufgabe seiner Präsidentschaft gemacht. Jetzt gilt es. Nutzen Sie Ihre Chance, denn, um bei den Worten Ihres Chefs Jean-Claude Juncker zu bleiben: Sie haben mit der Richtlinie begonnen, das Dach zu reparieren. Bringen Sie diesen Job zu Ende, solange die Sonne noch scheint.
Hochachtungsvoll
Gesine Weber
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