Corinne Deloy : « Viktor Orbans Projekt ist kein europäisches"

, von  Thomas Arnaldi, übersetzt von Noëlle Cremer

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Corinne Deloy : « Viktor Orbans Projekt ist kein europäisches"

Corinne Deloy ist Studienbeauftrage am Centre de recherches internationales de Sciences Po (CERI) und Redakteurin innerhalb der Beobachtungsstelle für Wahlen in Europa der Robert-Schumann-Stiftung. Treffpunkt Europa hat sich mit ihr getroffen um eine Bilanz der Wahlen des Jahres 2017 zu ziehen und die verschiedenen nationalen Perspektiven des Jahres 2018 auch in Hinblick auf die europäischen Parlamentswahlen 2019 zu bewerten

Treffpunkt Europa (TPE): Bei jeder neuen nationalen Wahl in Europa erstellt die Beobachtungsstelle für Wahlen zwei Analyse der politischen Situation, eine ex ante und eine ex post. Wie setzt sich diese Beobachtungsstelle zusammen?

Corinne Deloy (CD): Ursprünglich ist die Beobachtungsstelle ein Projekt von Dominique Reynié, Professor an der Sciences Po und Leiter der Fondapol (Fondation pour l’innovation politique, ndlr – Stiftung für politische Innovationen). In seinem vor einigen Jahren publizierten Buch „L’Opinion européenne“ (Die europäische Meinung), hatte er die Idee, eine Chronik der Wahlen der vergangenen Jahre auf europäischer Ebene zu erstellen, vor allem in Bezug auf die Länder der Europäischen Union. Das Buch wurde damals mit Unterstützung der Robert-Schumann-Stiftung herausgegeben. Die Stiftung hat darauffolgend entschieden, dass man diese Chroniken direkt online auf der Webseite veröffentlichen könnte. Diese Chroniken werden generell einen Monat vor den Abstimmungen verfasst und erklären die Herausforderungen, die Persönlichkeiten und die konkurrierenden Kräfte, den Stand der vorherigen Umfragen etc. Kurz nach der Abstimmung erstellen wir einen Bericht der Ergebnisse und eine kleine Analyse.

TPE: 2017 war ein „Superwahljahr“, vor allem durch die Wahlen in drei Gründungsstaaten der Europäischen Union, den Niederlanden, Frankreich und Deutschland. Welche Bilanz können wir aus den Wahlen 2017 ziehen?

CD: 2017 ist ein interessantes Jahr, denn es ist ein Jahr in dem man sehr viel Angst hatte. Man dachte, dass sich in vielen Ländern die Populisten – rechts- oder linksextrem- an den Urnen durchsetzen würden. In der Tat gab es einen starken Anstieg an Populisten oder Parteien an den extremen Rändern des politischen Spektrums, aber keiner dieser Parteien ist es in den europäischen Ländern trotz ihres kontinuierlichen Wachstums gelungen, einen Sieg an den Urnen zu erreichen. Dagegen haben sich die pro-europäischen Kräfte durchgesetzt, vor allem in Frankreich. Emmanuel Macron war mit Wahlkampfveranstaltungen unter europäischer Flagge mit Abstand der europafreundlichste Kandidat. Als er am 7. Mai triumphierend am Louvre zur Tribüne einmarschierte, hörte man im Hintergrund die Ode an die Freude. Schließlich war es ein Jahr, das den Sieg der pro-europäischen Kräfte und gleichzeitig den Vorstoß der Populisten gesehen hat. Im Jahr 2017, im Gegensatz zu 2018, hat dieser Vorstoß aber nicht zu einem Erfolg geführt.

TPE: Trotzdem gab es in Deutschland den vorher nicht dagewesenen und aufsehenerregenden Durchbruch der AFD (Alternative für Deutschland), die in den Bundestag eingezogen ist…

CD: Deutschland gesellt sich zu den europäischen Ländern, in denen die Populisten präsent sind, auch bei den Regierungsparteien. Tatsächlich hat die AFD 2017 einen beachtlichen Zuwachs erhalten. Tschechien ist in diesem Zusammenhang vielleicht ein Gegenbeispiel. Andrej Babis hat 2017 die Wahlen gewonnen, auch wenn die Regierungsbildung sechs Monate später immer noch nicht abgeschlossen ist. Andrej Babis ist etwas anders: er ist zweifellos ein Populist, aber man kann das Land nicht mit anderen vergleichen, es ist nicht Ungarn oder Polen. Babis hat doch eine pro-europäische Seite, er hat vor allem eine pragmatische Seite, weniger ideologisch als Viktor Orban.

TPE: Im letzten Bericht Schumann über den Stand der Union scheinen Sie optimistisch auf das Jahr 2018 zu schauen. Sind Sie weiterhin optimistisch, auch mit Blick auf die Wahlen, die sich seit Januar ereignet haben?

CD: Nicht wirklich. Wenn Sie über Italien sprechen wollen, man hat Sorge um das Konzept der Wahlen und Italien ist dafür ein perfektes Beispiel. Es gibt Tschechien, davor Spanien, da hat man tatsächlich Probleme eine Regierung zu bilden. Man wählt, die Regierungsparteien verlieren an Boden, die Sozialdemokraten mehr als die Rechten. Man erreicht keine Mehrheit und die Unzufriedenheit scheint bestehen zu bleiben, auch bei einer Rückkehr des wirtschaftlichen Wachstums. Das Modell von Wahlen, die alle vier oder fünf Jahre stattfinden und während dieser Zeit eine Mehrheitsregierung ermöglichen, die es den Bürgerinnen und Bürgern erlaubt, ihren eigenen Beschäftigungen nachzugehen, funktioniert nicht mehr. Viele Bürgerinnen und Bürger wollen mehr eingebunden werden und nicht nur alle fünf Jahre einmal an die Urne gehen. Es gibt einen starken Wunsch nach Beteiligung und die Wahlen funktionieren nicht mehr. Das politische Angebot ist ein wirkliches Problem: Rechts und Links nähern sich immer weiter an; das sozialdemokratische Projekt, auch weil es ohne Zweifel ein Erfolg war und endlich gelungen ist, müsste sich selbst als ein neues Projekt für die kommenden Jahre erfinden. Es gibt Fragen, die man sich stellen sollte, aber das geschieht nicht. Es müsste ein Bewusstsein von dem geben, was auf dem Spiel steht.

TPE: Wenn man damit beginnt, eine erste Bilanz der Wahlen 2018 zu ziehen, gab es Italien, auch wenn Italien selbst ein „Labor des Populismus“ ist, die Präsidentschaftswahlen in Tschechien und die Wiederwahl von Milos Zeman, wie auch die von Viktor Orban in Ungarn.

CD: Ja, stimmt genau. Zu beachten ist außerdem, dass Viktor Orban sein Wahlsystem und seine Verfassung so gut verriegelt hat, dass es sehr schwierig werden wird, ihn eines Tages zu ersetzen. Außer mit einem Zusammenschluss der Opposition, die aber komplett zersplittert ist, im linken, wie auch im rechten Spektrum von Viktor Orban mit der Jobbik, die inzwischen fast eine Zentrumspartei geworden ist. Gleichwohl ist er größtenteils wiedergewählt worden.

TPE: Mit dem Wiederaufleben der Wahlbeteiligung in Ungarn, erwartete man eine starke Mobilisierung der Wählerinnen und Wähler und dachte, Viktor Orban könnte seine verfassungsmäßige Zweidrittelmehrheit der Sitze im Parlament verlieren…

CD: Das war ein Fehler, ein Wunsch der Politikanalytiker. Das war nicht die Realität des ungarischen Volkes, das für Viktor Orban stimmt. Man muss ebenfalls sagen, dass es nicht wirklich eine Persönlichkeit der Linken gibt. Sie haben es ihrem alten linken und sehr liberalen Premierminister Ferenc Gyurcsanyleur nicht verziehen, dass er sie angelogen hat, um wiedergewählt zu werden. Ihm wurde nicht verziehen, niemand hat ihn ersetzt und es gibt nicht wirklich ein Projekt des linken Spektrums. In Ungarn hat man außerdem gegen die Migrantinnen und Migranten gewählt, da man Angst hat vor der „Islamisierung“. Ungarn hat eine spezielle Geschichte mit einer Vergangenheit türkischer Invasionen. Viktor Orban hat dies genutzt um seinen Stimmenanteil zu erhöhen.

TPE: Gibt es die gleiche Gefahr einer illiberalen Demokratie auch für Tschechien?

CD: Ich würde sagen, ja, es gibt diese Gefahr, aber in einem geringeren Ausmaß. Andrej Babis ist vor allem Unternehmer, pragmatischer, pro-europäischer wenn es sein muss, während Viktor Orban sich eher als Ideologe mit sehr traditionellen Werten darstellt. Desweitern wird sich in Tschechien eine Koalition bilden. Auch wenn die Kräfte der Regierung seit den letzten Wahlen wie überall sonst auch komplett eingesunken sind, haben sie sich gehalten. Klar, die Tschechen haben einen etwas verrückten Präsidenten, aber er hat nicht wirklich Macht. Ich denke daher, dass die Geschichte Tschechiens eine komplett andere ist.

TPE: Als nächste Wahlen haben wir die Parlamentswahlen in Tschechien am 3. Juni 2018. Wie stellt sich dort der Wahlkampf dar?

CD: In Bezug auf Slowenien gibt es viel Unsicherheit. Der Premierminister Miro Cerar ist zurückgetreten, nachdem das Oberste Gericht seine vorher durchgeführte Volksabstimmung über den Transport für ungültig erklärt hatte. Er hat dies genutzt, um zurückzutreten und versucht nicht wir jemand zu wirken, der vier Jahre lang an der Macht war. Es ist übrigens in Slowenien sehr selten, sein gesamtes Mandat zu beenden. Daher sieht es ganz gut für ihn aus. Den Umfragen nach positioniert er sich mit den anderen mit einer respektablen Bilanz. Slowenien geht es sehr viel besser und es hat die Wirtschaftskrise überstanden. Wie bei jeder neuen Wahl in Slowenien gibt es auch einen neuen Mann, dieses Mal Marjan Šarec, der Kandidat der Präsidentschaftswahlen 2017 war. Er war ein unglücklicher Kandidat, hat aber ein sehr gutes Ergebnis erzielt. Er ist ein alter Schauspieler, ein Nachahmer, Bürgermeister von Kamnik (Stadt im Nordosten Sloweniens) nach zwei Amtszeiten. Er hat kein wirkliches Programm, außer dass es Slowenien nicht gut geht und es eines Retters bedarf. Es ist einfacher, die Wählerinnen und Wähler mit dieser Rhetorik zu mobilisieren, das ist eine sehr slowenische Vorstellung. Es war bei den letzten Wahlen mit Miro Cerar sehr ähnlich, der damals neu aufgetreten war. Da er sehr gemäßigt und in der politischen Mitte angesiedelt ist, hat er daraufhin die Arbeit getan. Bei jeder Parlamentswahl gibt es neue Persönlichkeiten, die auftauchen und sich auf jeden Fall für die letzten drei Wahlen durchsetzen.

TPE: Dennoch scheint die Partei des modernen Zentrums (Mitte-Links) von Miro Cerar in den Umfragen in einer schlechten Position, um die Wahlen anzugehen…

CD: Die Partei von Miro Cerar liegt bei den Umfragen nicht gut, hat aber wieder aufgeholt. Marjan Šarec, dem man den Sieg in den Umfragen vorhergesagt hatte, scheint sich stabilisiert zu haben. Auf jeden Fall wird es eine Koalition geben, wie in der Mehrheit der Länder Europas. Es gibt aber eine große Unsicherheit, ich weiß nicht, ob Šarec die Nase vorne haben wird. Ich würde eher sagen, dass die Partei des rechten Spektrums, die Partei des Ex-Premierministers Janez Janša, der behauptet man habe ihm die letzten Wahlen gestohlen da er kurz vorher verhaftet wurde, sich an den Urnen durchsetzen könnte. Das wäre logisch, das wäre ein Wechsel. Slowenien hat Populisten, Šarec ist etwas heftiger als die anderen, aber es gibt keine Extreme. Natürlich, er positioniert sich gegen die Quoten, die von der EU „aufgedrückt“ werden, in dem er behauptet, Slowenien könne keine Flüchtlinge aufnehmen, aber er bleibt gemäßigt in Bezug auf das was man in der Europäischen Union schon kennt.

TPE: Die europäischen Parlamentswahlen werden in weniger als einem Jahr stattfinden. Man hat den Eindruck, dass der Wahlkampf in Frankreich schon angelaufen ist, auch schon auf europäischer Ebene. Was kann man von diesen Wahlen erwarten?

CD: Tatsächlich ist dies neu und interessant, vor allem in Frankreich, wo man im vergangenen Jahr gewählt hat. Im Moment bleibt dies noch auf nationaler Ebene, auch wenn man schon von Kandidaten auf europäischer Ebene spricht. Was kann man also erwarten? Wenn man sich das auf dem Papier heute anschaut, ist das schon sehr erschreckend. Man kann sagen, dass die Anti-Europäer 60% des europäischen Parlaments ausmachen werden, das heißt dass zum ersten Mal die Anti-Europäer die Mehrheit gegenüber den Pro-Europäern haben könnten. Das ist erschreckend, das ist das Resultat von dem, was Europa tut. Der Skandal um Martin Selmayr zum Beispiel, das ist genau das, was es ein Jahr vor den europäischen Parlamentswahlen nicht braucht. Das kann erschreckend sein, aber ich glaube nicht, dass diese Vorhersagen ein anderes Ziel haben, als Angst zu verbreiten. Die euroskeptischen Parteien werden sich nicht so einfach verbinden.

TPE: Beobachtet man nicht eine Art von Doppelprojekt auf europäischer Ebene, einerseits eine „Orbanisierung“ Europas gegen Flüchtlinge, gegen Einwanderer und gegen den Islam, die von Viktor Orban in Ungarn getragen wird, und auf der anderen Seite eine sehr pro-europäische und liberale Vorstellung, getragen von Emmanuel Macron?

CD: Ich stimme mit Ihnen überein, aber Viktor Orbans Projekt kann kein europäisches Projekt sein, es ist kein europäisches Projekt. Die Schließung der Grenzen und ein Europa der Nationen, das ist nicht die europäische Union. Viktor Orban, die Polen und Šarec sind Teil der Europäischen Union und natürlich muss man mit ihnen reden. Es geht nicht darum, sie abzulehnen, auch wenn ich denke, dass Europa strikter mit Viktor Orban hätte umgehen müssen. Man muss mit ihnen reden, aber das kann keine politische Alternative für das europäische Projekt sein, das ist nicht möglich.

TPE: Zufolge der Umfragen für die europäischen Parlamentswahlen in Frankreich liegt La Républiche en Marche bei den hypothetischen Resultaten vorne, während der Front National ebenfalls ein gutes Ergebnis erzielt. Spiegelt dies nicht diesen Dualismus des europäischen Projekts wider?

CD: Ja genau, das spiegelt genau diesen Dualismus wider. Es gibt die Pro-Europäer, die weiter gehen wollen, und die Verfechter eines geschlossenen Europas, eines Europas der Nationen mit ihren Grenzen. In Frankreich gibt es heute nicht mehr viel Opposition, es gibt vielmehr Maßnahmen von rechter und linker Seite. Der Front National wird die Partei bleiben, die die Opposition aufsammelt. Wird sich das mit einem wahren europäischen Projekt verbinden lassen, oder sind die Wählerinnen und Wähler ratlos, fühlen sich vernachlässigt und wählen daher Front National, oder enthalten ihre Stimme? Es wird sicher eine Stimmenthaltung auf Rekordniveau geben, und auch Stimmen für den Front National, um dem Überdruss und dem Unwohlsein Raum zu geben. Die europäischen Wahlen sind so etwas wie ein Sammelbecken für diese Art von Stimmen.

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