1919 beendete der Versailler Vertrag den Ersten Weltkrieg. Er sah vor, dass die deutsch-dänische Grenze von einer Volksabstimmung neu bestimmt werden würde. Dafür wurden in der Grenzregion zwei Wahlzonen eingeführt. Im Gegensatz zur nördlichen, die für die Rückkehr zu Dänemark stimmte, entschied sich die südliche Wahlzone mehrheitlich für den Verbleib in Deutschland. Nördlich und südlich der neuen Grenze lebten aber sowohl Dän*innen als auch Deutsche: So entstanden die deutsche Minderheit in Dänemark und die dänische Minderheit in Deutschland.
Zahlreiche dänische Institutionen im Norden Deutschlands, angefangen bei Kindergärten und Schulen über Kirchen und Bibliotheken bis hin zu einer Altenpflege und einer Tageszeitung, ermöglichen heute, dass Angehörige der dänischen Minderheit mit deutscher Staatsbürgerschaft ihre Kultur ausleben können. Die Institutionen sind prinzipiell allen offen, in ihnen wird aber dänisch gesprochen. Auch sind die Angehörigen der dänischen Minderheit in einer politischen Partei organisiert: Der Südschleswiger Wählerverband (SSW) vertritt ihre Interessen ebenso wie die der friesischen Volksgruppe im Landtag von Schleswig-Holstein. In den Bundestag hat er es jedoch bislang erst einmal, zwischen 1949 und 1953, geschafft.
Zur dänischen Minderheit zählt sich auch Linea Kopf. „Ich picke mir auf beiden Seiten etwas heraus“, sagt die zwanzigjährige Flensburgerin über das Gefühl, sowohl dänisch als auch deutsch zu sein. Für die Rechte ihrer Minderheit engagiert sie sich seit ihrer Schulzeit, heute unter anderem in der Jugendpartei des SSW und bei der Youth of European Nationalities (YEN), einem europaweiten Netzwerk von Jugendorganisationen nationaler und sogenannter autochthoner („ursprünglicher“ oder „alteingesessener“) Minderheiten. Neben der im SSW vertretenen dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe sind das in Deutschland auch die Lausitzer Sorb*innen und die deutschen Sinti*zze und Rom*nja. Zu Minderheiten außerhalb Deutschlands, die in der YEN organisiert sind, zählen außerdem beispielsweise die Elsässer*innen und Lothringer*innen im französischen Grenzgebiet zu Deutschland sowie die deutsche Minderheit in Polen, die aufgrund von Grenzverschiebungen nach dem Zweiten Weltkrieg entstand.
treffpunkteuropa.de: In der europäischen Politik ist Minderheitenschutz zwar ein oft genutzter Begriff, selten sprechen wir aber über nationale Minderheiten. Wie viele wissen überhaupt von ihnen?
Linea Kopf: In Deutschland sind nationale Minderheiten den meisten kein Begriff. Sinti*zze und Rom*nja kennen viele zumindest als Bezeichnung - oft aber leider negativ behaftet. Über die dänische Minderheit wissen die meisten Deutschen kaum etwas, die meisten Dän*innen aber auch nicht. Wir sind oft wie ein kleiner, unbekannter Fleck im Norden.
Du setzt dich für die Rechte von Minderheiten und insbesondere die der dänischen Minderheit in Deutschland ein. Was bedeutet der Begriff „Minderheit“ für dich?
Vor allem Identität. Im Endeffekt macht es mich nicht als Menschen aus, dass ich der dänischen Minderheit angehöre. Ich bin ja immer noch ich. Trotzdem hebe ich mich im Kulturellen von der deutschen Mehrheitsbevölkerung ab. Das hat dann doch viel damit zu tun, wer ich selbst bin.
Es fängt schon damit an, dass ich kaum deutsche Kinderlieder kenne, weil wir im Kindergarten nur dänische Lieder gesungen haben. In der Schulzeit hatte ich wenige Freund*innen, die nicht zur dänischen Minderheit gehörten, außer vielleicht die Kinder aus der Nachbarschaft. Wirklich bewusst geworden ist es mir aber erst, als ich die 9. Klasse in Dänemark verbracht habe: Da habe ich ganz deutlich gemerkt, dass ich weder ganz deutsch, noch ganz dänisch bin. In beiden Ländern fühle ich mich zugehörig, aber auf eine andere Art und Weise als die Mehrheitsbevölkerung.
Historisch gesehen ging es der dänischen Minderheit nicht immer gut: Im Nationalsozialismus zum Beispiel wurde sie schikaniert und unter Druck gesetzt. Wie geht es ihr heute?
Der dänischen Minderheit geht es heute wirklich sehr gut. Wir haben alles, was man sich wünscht: etwa die Chance, in dänische Schulen zu gehen. Trotzdem gibt es Probleme: Im Kreis Schleswig-Flensburg sollten zum Beispiel kostenlose Schulbusse eingeführt werden. Dabei hat man aber die Waldorf-Schüler*innen und die dänische Minderheit ausgenommen. Wir müssen also weiterhin für unseren Bus bezahlen. Für uns ist das direkte Diskriminierung.
Wie gehst du dagegen vor?
Die Partei der dänischen Minderheit, der SSW, hat ja auch einige Sitze im Landtag und ich bin in der Jugendpartei. Dort machen wir auf Diskriminierung aufmerksam. Wenn man den Leuten, die solche Entscheidungen treffen, sagt, dass sie diskriminierend sind, sind sie meist erschrocken, weil sie niemanden benachteiligen wollten. Sie haben uns aber eben nicht mitgedacht.
Mit der Jugendpartei, dem SSWu, haben wir uns auch gegen den Grenzzaun eingesetzt, der im letzten Jahr zwischen Deutschland und Dänemark gebaut wurde. Für mich reißt so etwas ein Stück weit auch meine Identität kaputt: Da wurde mit einem Zaun genau das markiert, was ich fühle, um zu zeigen, dass das so nicht geht. Wir haben damals zusammen mit der deutschen Jugendpartei in Dänemark Volleyball über den Zaun gespielt.
Eine Minderheitenpartei wie der SSW läuft Gefahr zu suggerieren, dass alle Angehörige einer Minderheit automatisch dieselben Interessen hätten. Wie gehst du in deinem politischen Engagement damit um?
Es stimmt, dass innerhalb des SSWs viele verschiedene Meinungen vertreten sind. Oft wird gesagt, dass er sich eher mittig positioniert, aber in einigen Punkten weicht er stark davon ab. Im Moment diskutieren wir, ob wir jemanden für die Bundestagswahlen aufstellen werden: Dazu gibt es ganz unterschiedliche Positionen. Man kann kaum alle Interessen in einer Partei zusammenbringen.
Viele meiner Freund*innen wählen andere Parteien, weil diese ihnen besser passen. Im Endeffekt ist es aber in unserem Interesse, als Minderheit eine politische Vertretung zu haben, und ein Stück weit ist es für viele auch Tradition, dass sie dem SSW angehören: Im Zweifelsfall gibt man seine Stimme eben der Minderheit.
Verschiedene Minderheiten werden gesellschaftlich sehr unterschiedlich wahrgenommen: Sinti*zze und Rom*nja sind beispielsweise europaweit Diskriminierung ausgesetzt. Wie gut funktioniert es, gemeinsam für die Rechte von unterschiedlichen Minderheiten zu kämpfen?
Bei einem Ausflug der dänischen Schule wurden wir einmal gebeten, die nationalen Minderheiten in Deutschland aufzuzählen. Ich war die einzige, die alle vier nennen konnte. Angehörige*r einer Minderheit zu sein, bedeutet also nicht gleich, sich für Minderheiten generell einzusetzen.
Ich möchte aber, dass jede*r leben kann, wie er*sie möchte - und das unabhängig davon wo jemand sich befindet. Im Februar haben wir auf einem Seminar der YEN in Ungarn darüber gesprochen, dass man auf vielen verschiedenen Arten und Weisen Minderheiten angehören kann. Wir haben uns darüber ausgetauscht, wie man verschiedene Minderheiten zum Beispiel bei Events besser einbeziehen kann, um insgesamt inklusiver zu arbeiten.
Einfach ist das nicht immer. Gerade Sinti*zze und Rom*nja leben nicht wie wir in einer Region konzentriert, sondern geografisch verstreut. Deshalb ist es umso schwieriger für sie, sich zu organisieren. Da versuchen wir, viele verschiedene Organisationen einzuladen und anzuhören. Mit der YEN arbeiten wir an einem Podcast, in dem auch Sinti*zze und Rom*nja zu Wort kommen. Ein anderes Thema, das wir im Podcast behandeln, ist zum Beispiel die Digitalisierung von Minderheitensprachen. In der YEN haben wir uns auch dafür stark gemacht, dass in einigen Regionen zweisprachige Schilder aufgestellt werden, und uns gemeinsam für die Minority SafePack Initiative eingesetzt, die für alle EU-Länder von Vorteil ist.
Die Minority SafePack Initiative ist eine Europäische Bürgerinitiative. Was möchte sie erreichen?
Die Initiative fordert, dass eine Reihe von Gesetzen, die Minderheiten schützen, in das EU-Recht aufgenommen und die Rechte von Minderheiten insgesamt innerhalb der EU auf die Agenda gesetzt werden. Es gibt so viele Minderheiten, von denen die meisten Europäer*innen gar nicht wissen, dass es sie gibt. Wir wollen mit der Initiative aufeinander aufmerksam machen.
Bei einer Europäischen Bürgerinitiative müssen eine Million Unterschriften aus verschiedenen Ländern gesammelt werden. Das haben wir geschafft. Jetzt muss sich die Europäische Kommission mit den Forderungen beschäftigen. Eigentlich sollte es bereits eine öffentliche Anhörung geben, aber die wurde wegen der Corona-Pandemie verschoben. Wie die Initiative angenommen und umgesetzt wird, steht jetzt noch im Raum.
Dein Engagement geht weit über die Grenzregion im deutschen Norden hinaus. Würdest du sagen, dass du so etwas wie eine europäische Identität hast?
Nein, das würde ich nicht. Grenzübergreifendes Engagement ist mir sehr wichtig, aber eine europäische Identität zu haben klingt für mich ein wenig utopisch. Ich sehe mich zuerst als deutsch-dänisch, weil ich mich in beiden Ländern zuhause fühle, nicht aber als europäisch.
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