Generationengespräch über Europa

Das Europäische Archiv der Stimmen geht online

, von  Arbeit an Europa e.V.

Das Europäische Archiv der Stimmen geht online
Collage (Ausschnitt): © privat/TEMPUS CORPORATE

Zwei Jahre lang hat der Verein „Arbeit an Europa e.V.“ die Zeitzeugnisse und Lebensgeschichten renommierter Europäer*innen gesammelt. Jetzt ist das multilinguale Ton- und Textarchiv da. Das Goethe-Institut stellt die Geschichten und Perspektiven der Europazeitzeug*innen mit dem Projekt „Erzähle mir von Europa“ anlässlich der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vor.

„Arbeit an Europa“ ist eine Gruppe von engagierten Zeitgenoss*innen, die sich, bewegt durch das Brexit-Referendum, zusammengetan hat, um die Zukunft Europas mitzugestalten. Das "Europäische Archiv der Stimmen“ ist ein zentrales Projekt der Gruppe und wurde in Zusammenarbeit mit Unterstützer*innen in ganz Europa realisiert. Mehrmals im Jahr trifft sich die Gruppe an europäischen Orten abseits der Metropolen, um jungen Europäer*innen zu begegnen und alten Begriffen neuen Sinn zu geben.

Europa – mehr als nur EU

Europa, so geht die Legende, sei ein zerstrittener Haufen von Nationalstaaten, ein demokratischer Invalide, ein bürokratisches Ungetüm. Meistens, so schimpfen die europaverdrossenen Menschen, gehe es um Geld: Nettozahler gegen Beitragsempfänger, Sparsame gegen Freigiebige, Gläubiger gegen Schuldner. Und immer wieder nähren die Regierungschefs selbst die Europawut, indem sie europäische Erfolge sich selbst zuschreiben, die Niederlagen hingegen Brüssel anhängen.

Europa aber ist mehr als eine politische Union oder ein Wirtschaftsraum, mehr auch als bloß ein Kontinent oder ein schönes Wort in Sonntagsreden. Europa, das sind wir alle und nur durch unsere Geschichten kann die europäische Idee leben. Deshalb setzt die Gruppe „Arbeit an Europa“ den Verdrossenen eine Sammlung lebendiger Geschichten entgegen: das Europäische Archiv der Stimmen.

Ein Geflecht aus Stimmen und Sprachen

Ein Jahr lang haben junge Europäer*innen bedeutende Zeitzeug*innen der europäischen Gründungszeit befragt; Intellektuelle, die Europa nach dem Krieg mit aufgebaut und getragen haben, Bürger*innen, die in ein blutiges Europa hineingeboren worden sind und den Kontinent langsam haben zusammenwachsen sehen – ein jeder aus seiner Warte, geographisch, kulturell und ideologisch. Entstanden ist so ein Geflecht aus vielen Stimmen und Sprachen, die sich mal einig sind, mal miteinander streiten über all das, was Europa war, ist und einmal werden kann.

Der 1931 geborene französische Drehbuchautor Jean-Claude Carrière etwa erinnert sich an das Europa seiner Kindheit, „ein Zentrum des Krieges“, in dem es unmöglich war, „über die Deutschen zu sprechen, ohne sie als Feinde zu sehen“, und erzählt, wie er trotzdem mit den Nationen um sich herum eine gemeinsame Sprache fand: die des Kinos.

Auch für die Isländerin Vigdis Finnbogadottir (geboren 1930), die weltweit erste Frau, die zur Präsidentin gewählt wurde, war Europa zeitlebens vor allem ein kultureller Sehnsuchtsort. „Unser historisches Fundament, unsere isländischen Wurzeln liegen in Europa“, sagt sie und erklärt, warum die Insel zwischen Europa, Amerika und Russland trotzdem am besten fährt, wenn sie für sich und neutral bleibt.

Der slowakische Philosoph Egon Gál (geboren 1940) spricht dagegen auch von enttäuschten Hoffnungen, wenn er von dem Europa erzählt, das er nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu sehen bekam: „Wir dachten, wir wären endlich Teil des Westens geworden. Aber der Westen, wie wir ihn uns vorgestellt hatten, war ganz anders als der, dem wir nun angehörten.“ Kann es je ein „europäisches Narrativ geben, mit dem wir uns identifizieren können?“, fragt er zweifelnd. Und auch beim portugiesischen Politiker und Juristen Adriano Moreira klingt Schmerz mit, wenn er von Europa und der Rolle seines Landes darin spricht. In einer Wirtschaftsgemeinschaft gebe es immer Starke und Schwache, Gewinner und Verlierer. Nur wenn die Kultur an erster Stelle stünde, könnten alle Mitglieder der EU „die gleiche Würde“ haben. Was Moreira heute fehlt, sind Persönlichkeiten wie jene, die Europa damals aufgebaut haben. „Vielleicht haben die Gründerväter ja Nachkommen!“, so der 1922 geborene Portugiese hoffnungsvoll.

Die Gespräche zum Hören und Lesen

Dies sind nur Fetzen aus insgesamt mehr als fünfzig Interviews, die auf der Internetseite der Gruppe „Arbeit an Europa“ über eine multimediale Europakarte aufgerufen werden können. In den jeweiligen Originalsprachen und in englischer Transkription können Interessierte dort die langen Gespräche nachhören und nachlesen. Unterstützt wird das Archiv unter anderem von der Gerda Henkel Stiftung sowie der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung.

Auf Grundlage des Europäischen Archivs der Stimmen und in Zusammenarbeit mit „Arbeit an Europa“ hat das Goethe-Institut außerdem das Projekt „Erzähle mir von Europa“ ins Leben gerufen. Anlässlich der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und gefördert durch das Auswärtige Amt lädt das Goethe-Institut in den kommenden Monaten in dreizehn europäischen Ländern zum generationsübergreifenden Zuhören und Debattieren über Europa ein

Ihr Kommentar
Wer sind Sie?

Um Ihren Avatar hier anzeigen zu lassen, registrieren Sie sich erst hier gravatar.com (kostenlos und einfach). Vergessen Sie nicht, hier Ihre E-Mail-Adresse einzutragen.

Hinterlassen Sie Ihren Kommentar hier.

Dieses Feld akzeptiert SPIP-Abkürzungen {{gras}} {italique} -*liste [texte->url] <quote> <code> et le code HTML <q> <del> <ins>. Absätze anlegen mit Leerzeilen.

Kommentare verfolgen: RSS 2.0 | Atom