Das polnische Halbjahr hat begonnen

, von  Hendrik Heim, Paul Brachet

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Das polnische Halbjahr hat begonnen
Main image credit: Kancelaria Premiera/Flickr (under CC BY-NC-ND 2.0)

Das Jahr hatte gerade erst begonnen, da stand schon ein Wechsel an - am 1. Januar 2025 ging der Vorsitz im Rat der Europäischen Union von Ungarn ins nahegelegene Polen. Es ist der Anfang eines höchst spannenden Halbjahrs für den fünftgrößten Mitgliedsstaat der EU. Nicht nur tritt eine neue EU-Kommission auf den Plan, die zweite unter Ursula von der Leyen. Noch dazu stehen im Mai Präsidentschaftswahlen in Polen an. Ministerpräsident Donald Tusk sieht sich derweil mit mehreren Herausforderungen konfrontiert - ein andauernder Krieg im Nachbarland Ukraine ohne Lösung in Sicht, und noch dazu die Rückkehr Donald Trumps ins mächtigste Amt der Welt.

Das Stichwort der Präsidentschaft: Geopolitik

Mit der Präsidentschaft des Rats der Europäischen Union leitet Polen nun bis zum 31. Juni ein unverzichtbares Organ der Union. Im Rat treffen sich alle Ministerinnnen und Minister der EU-Mitgliedstaaten. Der Vorsitz wechselt alle sechs Monate von einem Mitgliedstaat zum anderen. Dies hat vor allem symbolischen Charakter. Denn pragmatisch gesehen ist die Einflussmöglichkeit des vorsitzenden Landes in nur sechs Monaten eher begrenzt. Dennoch ermöglicht es die rotierende Ratspräsidentschaft dem jeweiligen Mitgliedstaat, seine Prioritäten zu setzen. Ein halbes Jahr lang kontrolliert es die Zeitpläne für die Verhandlungen und treibt die wichtigsten Vorhaben voran.

Die größte Priorität Polens gilt dabei der Verteidigung und Sicherheit Europas, dem Kampf gegen Fake News, dem Klimawandel und nicht zuletzt der Migration an den EU-Außengrenzen. Ein Blick auf die offizielle Website des Ratsvorsitzes macht klar: Polen möchte geopolitisch agieren, um damit die europäische Souveränität zu stärken. Denn die ist mehr als gefährdet: Ein fast dreijähriger Krieg an den östlichen Grenzen, der wachsende Einfluss Russlands und Chinas in der Welt, die heikle Situation im Nahen Osten und multiple globale Herausforderungen machen der Europäischen Union zu schaffen. Der Staatenbund fühlt sich abgehängt, in einer Welt, die wieder kriegerisch geworden ist. Polen will die EU zu einem echten globalen Akteur machen. Ein Fokus, der bei der letzten Präsidentschaft ausblieb. Aber ist das zu schaffen?

Die Polen gehen an die Wahlurne

Es ist durchaus möglich, die ambitionierten Ziele Polens in der EU zu erreichen. Dennoch wartet ein Hindernis auf Tusk und seine Regierung, und die heißt Präsidentschaftswahl. Damit seine Partei gewinnt, muss auch der große Europäer Donald Tusk nationale Interessen über internationale stellen. Der derzeitige Präsident Andrzej Duda von der nationalistischen und ultrakonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) darf nach zwei Amtszeiten nicht erneut antreten. Stattdessen tritt Karol Nawrocki an, ehemaligen Leiter des PiS-nahen “Instituts des Nationalen Gedenkens”. Für die Bürgerplattform, die liberale Partei von Donald Tusk, tritt Rafał Trzaskowski an. Er ist derzeit Bürgermeister von Warschau und liegt in den Meinungsumfragen mit 36,2% im ersten Wahlgang und 56% in einem hypothetischen zweiten Wahlgang gegen Karol Nawrochi vorn.

Nach dem Erfolg der liberalen Tusk-Koalition bei den Parlamentswahlen 2023 könnte diese Wahl der zweite Schritt in eine neue Ära der polnischen Demokratie sein. Nach Tusks seit einem Jahr andauernden Reformen gegen den Eingriff der PiS in Justiz und Privatsphäre könnte die Wahl eines liberalen und EU-freundlichen polnischen Präsidenten die Regierungsarbeit und Politik der neuen Regierung weiter verbessern, und damit auch die Regierungsarbeit und Politik von Tusk erleichtern. Ein liberaler Präsident würde die polnische Demokratie und die EU-freundliche Haltung des Landes festigen. Ein Sieg der PiS-Partei könnte hingegen bedeuten, dass der zukünftige Präsident bei wichtigen Entscheidungen sein Veto einlegt oder gemeinsame Vorhaben des Parlaments bremst.

Die Gefahr besteht, dass die polnische Ratspräsidentschaft im Chaos versinkt, sollte Polen mehr mit sich als mit Europa beschäftigt sein. Die Erfahrung vergangener Jahre zeigt, dass nationale Wahlen den EU-Entscheidungsprozess zwar nicht aufhalten, aber doch erheblich bremsen können. Dennoch sind sich die meisten Staatschef*innen und Beobachter*innen einig: Selbst wenn die polnische Präsidentschaft an den nationalen politischen Gegebenheiten scheitern sollte, wird sie besser abschneiden als die vorherige, die mühsame ungarische Präsidentschaft.

Die Republik Polen als neue Säule Europas

Die Behauptung liegt nahe, dass Polen als östliches Land in der EU kein großes Gewicht habe und nicht erwähnenswert sei, da andere EU-Länder als mächtiger angesehen würden. Doch damit übersähe man die neuen Machtverhältnisse in Europa. Seit dem Krieg in der Ukraine im Februar 2022 haben sich die mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten durch eine starke Unterstützung Kiews und ein uneingeschränktes Misstrauen gegenüber Russland verdient gemacht. Während die westlichen Mitgliedstaaten weniger geneigt waren, ihre Beziehungen zu Putins Russland zu kappen, bewirkte die Tatkraft und Diplomatie der mittel- und osteuropäischen Länder und insbesondere Polens, dass die EU letztendlich mehr oder weniger mit einer Stimme agieren konnte.

Dazu kommt, dass Polen eine der stärksten Wirtschaftswachstumsraten in der EU hat (5,4% im Jahr 2022, ca. 3% für 2024 erwartet), was große Investitionen in die Energiewende und die Verteidigung ermöglicht. Stichwort Verteidigung: Warschau will 37 Milliarden Euro für die Verteidigung ausgeben, was fast 5% des polnischen BIP entspricht - ein Rekord für das Land und die EU. Diese Investitionen in die Verteidigung machen das Land zur besten Armee der Union, was die Zahl der Soldaten und moderne Ausrüstung angeht. Heute ist die polnische Armee stärker als die deutsche und kann mit dem französischen Militär konkurrieren. Diese neue Situation macht Polen zu einem unumgänglichen Partner, wenn es um die Sicherheit des Kontinents geht, vielleicht sogar zu einem der ersten, mit dem man sprechen sollte. Polen entwickelt sich zum führenden Land Osteuropas in einem nunmehr östlich zentrierten Europa.

Ob die polnische EU-Ratspräsidentschaft die Welt verändern kann, bleibt unsicher. Aber ob Polen das interne Machtgleichgewicht in der EU verändern kann? Diese Frage stellt sich nicht mehr. Denn Polen hat es bereits getan.

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