Die Konvention des Europarats wurde 2011 ausgehandelt und nur ein Jahr später von der Türkei als erstem Land ratifiziert worden. Ausgerechnet die Türkei ist nun, 10 Jahre später, als erstes Land aus der Istanbul-Konvention ausgetreten. Die Regierung des türkischen Präsidenten Erdoğan begründete dies damit, das Abkommen würde zu erhöhten Scheidungsraten führen und der Einheit der Familie schaden; außerdem würde die Übereinkunft zur „Normalisierung von Homosexualität“ beitragen. Doch die Kritik an der Istanbul-Konvention gefährdet eines der wichtigsten Instrumente im Kampf gegen Gewalt an Frauen.
Was ist die Istanbul-Konvention?
Die Istanbul-Konvention ist die erste verbindliche zwischenstaatliche Vereinbarung zum Schutz von Frauen vor Gewalt (insbesondere vor häuslicher Gewalt). Eine zentrale Feststellung der Konvention ist, dass Gewalt gegen Frauen ein gesellschaftsweites, strukturelles Problem darstellt, dass diese strukturelle Gewalt aus historischen Ungleichheitsverhältnissen gewachsen ist und dass gegenwärtige Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern auch heute noch ein zentrales Element solcher Gewaltstrukturen bilden. Die Konvention setzt sich daher nicht nur das Ziel des Schutzes von Frauen vor häuslicher Gewalt, Femiziden und allen anderen Formen von Gewalt, sondern fordert auch ausdrücklich die Abschaffung jeglicher Formen der Diskriminierung von Frauen und die feste Verankerung der Gleichstellung der Geschlechter.
Inzwischen ist die Istanbul-Konvention von nahezu allen Mitgliedsstaaten des Europarats und von der Europäischen Union unterzeichnet. Die Ratifizierung des Vertrags steht aber in vielen Ländern noch aus, inklusive in sechs EU-Mitgliedsstaaten: Bulgarien, Lettland, Litauen, der Slowakei, Tschechien und Ungarn. Auch haben viele Staaten die Konvention erst mit großem Zeitverzug ratifiziert: In Deutschland trat sie etwa im Februar 2018 in Kraft, in Irland erst im Sommer 2019. Die folgende Karte zeigt den Fortschritt bei der Ratifizierung der Istanbul-Konvention.
EU-Mitglieder üben Kritik an der Istanbul-Konvention Zusätzlich zum Austritt der Türkei wurde in den vergangenen Jahren auch innerhalb der EU Kritik an der Istanbul-Konvention laut. Dies gilt insbesondere für diejenigen Mitgliedsstaaten, welche die Konvention noch nicht ratifiziert haben. So befand 2018 das bulgarische Verfassungsgericht das Abkommen für verfassungswidrig, während sich das ungarische Parlament unter Führung der rechtpopulistischen Partei Fidesz im letzten Jahr weigerte, die Konvention zu ratifizieren. Noch in diesem Jahr schickte das Parlament in Polen, welches die Istanbul-Konvention 2015 ratifiziert hat, einen Gesetzesentwurf zum Austritt aus dem Abkommen an die Parlamentsausschüsse, nachdem der polnische Justizminister schon im Jahr zuvor einen solchen Austritt angedroht hatte. Auch Kroatien kritisierte bei seiner Ratifizierung im Jahr 2018 die Istanbul-Konvention.
Eine häufige Begründung für die Ablehnung oder Rücknahme einer Ratifizierung sind nationale Gesetze, die einen vermeintlich ausreichenden Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt gewährleisten sollen. Darüber hinaus politisieren die oft rechtsnationalen Regierungen dieser Länder die Inhalte und Ziele der Istanbul-Konvention, um ihre Kritik an dem Abkommen zu rechtfertigen. So behauptet etwa die ungarische Partei Fidesz, das Abkommen würde einen „Gender-Wahn“ vorantreiben, welcher den Überzeugungen der Regierung widerspräche. Auch Kroatien warnt vor „Gender-Ideologie“ und der Schwächung der „verfassungsmäßen Definition der Ehe“. Laut der polnischen Regierung würde die Konvention die Religion nicht ausreichend respektieren und vermeintlich schädliche ideologische Elemente enthalten.
So wird jedoch gerade die Kritik an der Istanbul-Konvention zu einem politischen Werkzeug zur Verfolgung der ideologischen Ziele dieser konservativen Regierungen; der Kampf gegen Gewalt an Frauen wird durch diese Regierungen politisiert und verzerrt. Diese Kritiken, die ausbleibende Ratifizierung des Abkommens in vielen Staaten und die Austrittsbemühungen Polens sind in den vergangenen Monaten und Jahren immer wieder auf Empörung und Protest von internationalen Organisationen und aus der Zivilgesellschaft gestoßen.
Die EU als Unterzeichnerin: Spannungen zwischen Kommission und Mitgliedsstaaten
Eine gegenläufige Entwicklung zeigt sich jedoch auf gesamteuropäischer Ebene. So forderte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen 2019 die Ratifikation der Istanbul-Konvention durch die Europäische Union, nachdem die EU das Abkommen schon 2017 unterzeichnet hatte. Auch das EU-Parlament hat einen vollen Beitritt der EU im Jahr 2020 zur Priorität erklärt. Doch ist dies möglich, wenn die Konvention bei den Mitgliedsstaaten keine einheitliche Akzeptanz findet?
Ein Schlussantrag des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof aus dem März dieses Jahres scheint diese Frage zu bejahen. Laut dieser Entscheidung ist eine Ratifikation der Istanbul-Konvention durch die Europäische Union nicht nur grundsätzlich, sondern sogar ohne einen einstimmigen Beschluss der Mitgliedsstaaten möglich. Auch wenn nicht alle Mitgliedsstaaten das Abkommen ratifizieren, hat die Europäische Union somit die Möglichkeit, durch eine eigene Ratifizierung einen wichtigen Beitritt zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und zur Gleichstellung der Geschlechter zu leisten.
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