Die estnische Ratspräsidentschaft: Digitales und Sicherheit

, von  Elena Blum, übersetzt von Can Yildiz

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Die estnische Ratspräsidentschaft: Digitales und Sicherheit

Estland hat seit Anfang Juli die halbjährlich rotierende Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union (EU-Rat) übernommen. Das kleine baltische Land setzt den Schwerpunkt hauptsächlich auf die digitale Entwicklung, die eine Stärke der jungen Demokratie ist.

Die Präsidentschaft im EU-Rat rotiert seit dem Vertrag über eine Verfassung von Europa zwischen den Mitgliedsstaaten. Jedes halbe Jahr fällt die Festlegung der Prioritäten der EU und der Organisation der Räte der EU einem neuen Mitgliedsstaat zu. Dieser Posten wird nicht von einer einzelnen Person, sondern von einer gesamten Regierung getragen.

Seit 2007 arbeiten die Länder in sogenannten „Triplets“. Drei Länder, die zusammen 18 Monate lang die Ratspräsidentschaft innehaben, legen ein gemeinsames Programm vor, um eine Kontinuität der Arbeit der EU sicherzustellen. Bis 2009 waren der amtierende „Präsidentschaftsstaat“ auch für den Europäischen Rat (ER) zuständig, der Vertrag von Lissabon gab dieses Vorrecht jedoch an eine einzelne, von nationalen Interessen gelöste Person.

Eine erste, etwas überstürzte, estnische Präsidentschaft

Bis zum 31. Dezember ist es nun zum ersten Mal Estland, das die Chefrolle im Rahmen des neuen „Triplets“ Estland-Bulgarien-Österreich übernimmt. Die Entscheidung fiel in letzter Minute. Eigentlich sollte nämlich das Vereinigte Königreich die Präsidentschaft in der zweiten Hälfte des Jahres 2017 übernehmen. Theresa May kündigte vor weniger als einem Jahr jedoch an, den Posten weiterzugeben, da das Land zu sehr mit den Brexit-Verhandlungen beschäftigt sei.

Estland musste sich nach der Ratspräsidentschaft von Bulgarien und Malta, beide ebenfalls zum ersten Mal in der Position, anpassen, um die Übernahme der Präsidentschaft sicherzustellen, obwohl es nicht damit gerechnet hatte, die Geschicke der EU vor Januar 2019 zu führen. Doch das Timing ist gut, der Zufall gibt der Sache ihren Rest: Estland feiert seit April sein hundertjähriges Bestehen. Im April 1918 wurde erstmals eine autonome Regierung in Estland eingerichtet, 2020 jährt sich die Unterzeichnung des Friedens von Dorpat zum hundertsten Mal. Die Gelegenheit für die ehemalige Sovietrepublik, sich auf der europäischen Karriereleiter zu bewähren.

Estland, das digitale Musterland

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR konnte sich Estland, das flächenmäßig größer ist als die Schweiz, jedoch nur ein Sechstel von dessen Bevölkerung hat, an den Kapitalismus und die Globalisierung anpassen. Statt Banken, Postämter und Behörden zu etablieren, hat Estland sehr früh den digitalen Weg eingeschlagen, Hotspots eingerichtet, den Bürger*innen Ausbildungen angeboten und 2002 schließlich eine ab dem 15. Lebensjahr verpflichtende Chipkarte eingeführt, die alle Lebensbereiche abdeckt. Sie ist zugleich Personalausweis, Versicherungskarte, Zugticket, Kundenkarte, Wahlgerät etc.). Im Jahr darauf entwickelten drei Esten gemeinsam den Dienst „Skype“, was das kleine baltische Land in die Liga der ganz Großen im informationstechnischen Bereich katapultierte. Nach dem Verkauf von Skype begaben sich die Entwickler in den Staatsdienst und entwickelten ein leistungsstarkes „e-government“-System. Édouard Philippe, der neue französische Premierminister, hat zudem seinen ersten Staatsbesuch in Estland absolviert, um sich zu den Vorteilen einer digitalen Verwaltung zu informieren.

Estlands Prioritäten

Wenig überraschend ist folglich, dass die Entwicklung eines digitalen Binnenmarktes eine der Hauptprioritäten der Ratspräsidentschaft Estlands ist. Bei Antritt der Amtszeit muss das amtierende Land drei bis fünf Schwerpunkte festlegen, an denen die Mitgliedsstaaten in den folgenden sechs Monaten arbeiten werden. Diese Schwerpunkte müssen auf den Richtlinien des Europäischen Rates oder auf den Debatten beruhen, die Europa bewegen. Darüber hinaus müssen sie im Hinblick auf die Kompetenzen des Landes und dessen Umsetzungsvermögen in den einschlägigen Fragen angemessen sein.

Estland möchte den Bürgern High-Tech-Technologien nahebringen, grenzüberschreitendes „e-commerce“ entwickeln und Innovationen im digitalen Bereich, aber auch sichere Kommunikationswege in ganz Europa schaffen. In der Tat wurde Estland 2007 Opfer des ersten Cyberangriffs in der Geschichte des Internets. Russland hatte damals mehrere Zehnmillionen von Computern weltweit infiziert, um die estnischen Server zu überlasten, die mehrere Wochen stillgelegt werden mussten. Seitdem ist Estland ganz vorne beim Thema digitale Sicherheit und Datenschutz dabei.

Sicherheit ist im Allgemeinen eine weitere Priorität der estnischen Präsidentschaft: angesichts der Spannungen mit dem Nachbarn Russland und der Konflikte mit Minderheiten im eigenen Land, wegen derer Estland nicht selten kritisiert wird. Es möchte die Kontrolle der EU-Außengrenzen verstärken, sowie organisierter Kriminalität und Terrorismus durch eine engere Kooperation der EU-Mitgliedsstaaten, durch die Erhöhung des Verteidigungsetats und durch eine Verbesserung der digitalen Informationssysteme vorbeugen. Dies würde es erlauben, die Binnengrenzen wieder zu öffnen. Estland ist nämlich sehr an die Freiheit des Schengen-Raums gebunden, und setzt sich als dritten Schwerpunkt für eine „offene und innovative“ Wirtschaft ein. Letzteres wird sich in einer Erleichterung der Gründung von Firmen und Gewährung gewerblicher Finanzhilfen sowie im Kampf gegen Steuerhinterziehung und für einen gemeinsamen Strommarkt ausdrücken. Dieser Punkt nähert sich der letzten Priorität der estnischen Präsidentschaft: ein „nachhaltiges und für alle offenes Europa“, nach dem Abbild jenes kleinen Landes, das in den vergangenen 26 Jahren großen Fortschritt in sozialen und umwelttechnischen Fragen aufweisen konnte.

Dieser Artikel wurde ursprünglich auf „Eurosorbonne“ veröffentlicht, ein Studierendenverein des Instituts für Europastudien der Universität Sorbonne-Nouvelle.

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