Rechtsruck mit Ansage
Marcel Wollscheid - Chefredakteur von treffpunkteuropa.de
„Der Sieg der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) bei der Parlamentswahl in Polen kam wahrlich nicht überraschend. Schon im Mai hatte sich ihr Kandidat Andrzej Duda bei der Präsidentschaftswahl durchgesetzt; die christdemokratische Regierungschefin Ewa Kopacz konnte in ihrer kurzen Amtszeit derweil nie an Profil gewinnen. Die Reaktionen in Deutschland reichen von entsetzt bis diffamierend: Zeit Online sieht „Polen auf Orbáns Weg“, ein ARD-Journalist bezeichnet das polnische Volk gar als „dumm“.
Sinnvoller als die Verunglimpfung der polnischen Wähler wäre es, sich einige Gründe für den Rechtsruck vor Augen zu führen. Erstens traf die PiS-Spitzenkandidatin Beata Szydło im Wahlkampf einen Nerv mit der Aussage: „Statistiken werden uns nicht ernähren.“ Obwohl Polen in den vergangenen Jahren hohe Wachstumsraten verzeichnete, ist ein großer Teil der Menschen im Land unzufrieden mit niedrigen Löhnen und prekären Arbeitsverhältnissen. Gerade junge, gut ausgebildete Polen suchen deshalb im Ausland ihr Glück. Die rechtskonservative Opposition wusste diese Stimmung aufzugreifen. Zweitens hat sich die Mehrheit der Polen inmitten der Flüchtlingskrise in Europa gegen eine linksliberale Zuwanderungspolitik entschieden. Bereits die Regierung um Ewa Kopacz positionierte sich gegen einen festen Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge in der EU. Die nationalkonservative Nachfolgeregierung wird diese Position halten und den Ton der Debatte deutlich verschärfen. Im Umgang mit dem ungebremsten Flüchtlingszustrom geht es für viele mittel- und osteuropäische Staaten nicht nur um identitäre Fragen, sondern auch um die Bewahrung ihrer jungen Unabhängigkeit.
Vonseiten der europäischen Nachbarn sollte man der demokratischen Entscheidung in Polen daher nicht mit Belehrung und Schelte begegnen. Auch mit der Kaczyński-Partei wird eine konstruktive Partnerschaft möglich sein. Im System der vielen europäischen Zahnräder wird es jedoch nur dann vorangehen, wenn die gemeinsamen europäischen Lösungen tatsächlich allen Mitgliedern der Gemeinschaft zugute kommen.“
Blockade im Osten
Hervé Moritz - Chefredakteur von Le Taurillon
„Am Sonntag haben die polnischen Wähler der Partei von Präsident Duda eine Regierungsmehrheit verschafft. Recht und Gerechtigkeit (PiS) , konservativ und europaskeptisch, gewann aufgrund des Wahlrechts mit 38 Prozent der Stimmen 238 von 460 Sitzen im Parlament.
Die Wahlkampagne konzentrierte sich hauptsächlich auf die Flüchtlingskrise und nutzte die Ängste vieler polnischer Bürger. Harsche Kritik übte PiS an der Migrationspolitik der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments - wohlgemerkt eine verantwortungsvolle Politik, die der humanitären Krise gerecht wird. Polen sollte sich seiner Verantwortung stellen und statt populistischer Wahlkampf-Rhetorik eine ausgeglichene, pragmatische Debatte zum Thema führen.
Außerdem markiert der Wahlsieg der PiS eine Blockade für die europäische Integration Polens. Die Debatte um einen Euro-Beitritt wird zum Stillstand kommen, denn die neue Regierungsmehrheit setzt nicht auf den Beitritt zur Wirtschafts- und Währungsunion und wird sicherstellen, dass Polen die Beitrittskriterien nicht erfüllt. Polen ist außerdem ein wichtiger strategischer Partner für den deutsch-französischen Integrationsmotor. Noch nie war das Weimarer Dreieck so wichtig für den Fortschritt der Europäischen Union. Wenn die EU über Fragen einer gemeinsamen Armee oder die diplomatische Strategie gegenüber Russland im Ukraine-Konflikt berät, muss Polens Stimme gehört werden.
Die Wahl verheißt eine Marginalisierung Polens, das politisch einflussreichste Land unter den osteuropäischen Mitgliedsstaaten. Es ist ein schwerer Schlag für das Land so wie für die Europäische Union, die ein ambitioniertes Polen in Europa braucht.“
Wenige Alternativen auf dem Tisch
Christopher Powers - Managing Editor von The New Federalist
„In Polen scheint niemand über das Wahlergebnis überrascht zu sein. Seit Wochen scheinen die Polen einen Erfolg der PiS als unvermeidlich hingenommen zu haben - eine selbsterfüllende Prophezeihung. Dafür spricht auch die Wahlkampfpropaganda: PiS war mit Postern in der Metro und Plakatwänden omnipräsent vertreten, während die Zivile Plattform PO mit vergleichsweise wenigen Wahlplakaten in den letzten Tagen vor der Entscheidung erst spät auf die Bühne trat. Aus der Sicht dieses Redakteurs, der zur Zeit in Warschau lebt, fühlte es sich so an, als gab es nur Scheinwiderstand gegen das bevorstehende Ergebnis.
In den ländlichen Gegenden war die Dominanz der PiS und der rechten Parteien ebenfalls allzu deutlich. Beim Besuch eines Klosters in Wigry im nordöstlichen Polen war ich weniger beeindruckt von den päpstlichen Kammern von Johannes Paul II, als von der Medienberichterstattung in der Region, die die Menschen flehentlich zur Wahl von PiS aufrief - eine Alternative war nicht in Sicht. Das Wahlergebnis zeigte jedoch, dass die Partei weit über ihr konservatives ländliches Kernland hinausgewachsen ist und die Unzufriedenheit vieler Menschen im ganzen Land aufgreift.
Die polnischen Parteien aller Couleur werden die Frustration der Polen einbeziehen müssen, die sie beim Vergleich ihrer Löhne mit denen von Arbeitnehmern im benachbarten Deutschland verspüren. Die meisten Europäer zucken bei einem Besuch in der Schweiz angesichts der teuren Preise zusammen. Stellt euch dieses Szenario vor, wenn ihr ein beliebiges Land in Westeuropa besucht und ihr bekommt eine Idee davon, wie es vielen Polen geht.
Die kleinen Überreste des linken Flügels in Polen sollten nun ihre Bände zur kommunistischen Vergangenheit kappen und glaubwürdige Politikansätze zur Abmilderung dieser Sorgen präsentieren. Nowoczesna, eine knapp ein Jahr alte ALDE-Partei, muss nun politisch erwachsen werden und ihre Botschaften verstärken.
Kurzum: die Botschaft dieser Wahl muss von den politischen Parteien aufgenommen werden, damit in den nächsten vier Jahren und darüber hinaus eine stärkere, ausgeglichenere politische Debatte in Polen entsteht.“
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