Die Europäische Stadt: Ein Konzept mit globalem Anspruch?

, von  Arnisa Halili

Die Europäische Stadt: Ein Konzept mit globalem Anspruch?
Köln - futuristisch und frei. Foto: zur Verfügung gestellt von Hannah Faiß.

2050 werden zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben, schätzt die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung. Gerade Menschen in sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländern zieht es in urbane Zentren und deren Ballungsräume. Architekt*innen, Stadtplaner*innen und Urbanist*innen weltweit lassen sich dabei oftmals vom „Europäischen Modell“ in ihren Planungsprozessen beeinflussen: Einer von vielen Gründen sich genauer anzuschauen, was hinter dem Konzept der „Europäischen Stadt“ steckt und vor welchen Herausforderungen es heute steht.

Die Europäische Stadt ist ein historisch gewachsenes und komplexes Phänomen. Bereits der Versuch eine gemeinsame Definition für Stadt zu finden stellt eine Herausforderung dar. Was eine Stadt ausmacht, ist kulturell geprägt. Während Stadt für die eine*n eine Form sozialer Organisation ist, die einen Bildungsraum darstellt und zum Wohle der Stadtbevölkerung handelt, haben andere Städte wie Frankfurt am Main vor Augen, die mit ihrem „Bad-Banks-Image“ Wirtschaftsmacht und Innovation repräsentieren.

Solche Stadtbilder können variieren und parallel zueinander existieren. Geht man von einer Definition der Stadt nach Einwohnerzahl aus, so zeigen sich europäische Unterschiede: In skandinavischen Ländern fällt die Einwohnerzahl einer Stadt im Vergleich zu Deutschland deutlich geringer aus. Eine Gemeinsamkeit, die alle Stadtbilder vereint, ist aber die Abgrenzung der Stadt zum Land. Vermeintliche Unterschiede zwischen den beiden Lebensräumen werden über Eigenschaften wie kulturelle Angebote, Bevölkerungsdichte, Diversität, Wirtschaftskraft und viele weitere markiert.

Renaissance der Europäischen Stadt

Aufgrund der Globalisierung, Umstrukturierung von Wohlfahrtsstaaten und dem einhergehenden sinkenden Einfluss von Nationalstaaten erfährt die Europäische Stadt eine Wiederentdeckung in der Stadtforschung. Die Stadtforschung oder auch Urbanistik genannt, ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das sich der Auseinandersetzung von Städten unter gesellschaftlichen, geographischen, ökologischen, städtebaulichen, aber auch politischen, ökonomischen und kulturellen Strukturen widmet.

Das Konzept der Europäischen Stadt ist auf den Soziologen Max Weber (1864-1920) zurückzuführen. Seine Vorstellung von europäischen Städten war stark beeinflusst von mittelalterlichen Stadtstrukturen und der damaligen Physionomie Europas. Charakteristische Eigenschaften der Europäischen Stadt waren Weber zufolge eine Festungsanlage oder Stadtmauern, Wirtschaftlichkeit und Marktwesen, Gerichtswesen, (in Teilen) städtische Selbstverwaltung sowie die politische Rolle der Stadtbürger*innen, den sogenannten Burghers. Letzteren kam eine besondere Rolle zu, da sie in administrative Prozesse eingebunden waren. In Basel und Bern sind noch heute sogenannte Burghers in politische Prozesse involviert, wenn es zum Beispiel um die Besitzverwaltung von Wäldern oder Gebirgen geht.

Historische Geburtsstunde

Historiker*innen würden argumentieren, dass die aufgezählten Eigenschaften der Europäischen Stadt nach Weber bereits auf griechische Stadtstaaten, die sogenannten Polis (Athen ist ein Beispiel dafür), zutreffen. Eine erste Verstädterung fand jedoch in Europa zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert statt. Gründe für die Entstehung von Städten in dieser Zeit waren Handel, kirchlicher Machtausbau oder auch geopolitische Interessen wie im Fall von Newcastle in Großbritannien. Generell ist die Entwicklung des Handels im Mittelalter mit europäischen Städtegründungen eng verwoben: Der zuvor lokale und regionale Handel wurde im Zuge auftretender Städte, wie das bayrische Regensburg, auf internationaler Ebene ausgetragen.

Eine zweite Welle der Urbanisierung gab es im 19. Jahrhundert mit dem Eintreten der Industrialisierung. Das Entstehen von Städten in Europa erfolgte dabei regional ungleichmäßig. Arbeiter*innen aus ländlichen Gebieten zogen in die Städte und litten vor allem unter den schwierigen gesundheitlichen Bedingungen ihrer Arbeitsplätze sowie den prekären Lebensverhältnissen in den dicht bevölkerten Städten. Insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg gab es eine zunehmende Unzufriedenheit und Politisierung der Gesellschaft, sodass erste urbane Reformen eingeführt wurden: In Hamburg sowie Wien traten besondere Regelungen für die Bürger*innen ihrer Städte im Bereich Krankenversicherung sowie städtischer Wohnungsbau ein.

Aktuelle Herausforderungen: Was bleibt von der Europäischen Stadt?

Die Vorstellung der Europäischen Stadt ist unter anderem geprägt von starker öffentlicher Verwaltung und staatlich regulierter Stadtplanung, die im Wohle der Gemeinschaft handelt und unter anderem Besitzverhältnisse reguliert. Diese Vorstellung wird zunehmend kritisch gesehen: Derzeit gelangen viele europäische Stadtverwaltungen zu der Erkenntnis, dass die Umbrüche seit den 1970er und 1980er Jahren von öffentlichem Eigentum zu Privatisierung, öffentlicher Bereitstellung von Infrastruktur zu privater Infrastruktur, stark regulierten Stadtentwicklungsmaßnahmen zu Schwächungen alter Strukturen, vom Wohlfahrtsstaat (zum Beispiel durch Sozialen Wohnungsbau) zu Kürzungen von Subventionen und langfristigen und nachhaltigen Stadtentwicklungsvorhaben zu kurzfristigen Projekten Fehler waren.

Beispielsweise ist die Zahl der Sozialwohnungen im Jahr 2019 in Deutschland um 3,5 Prozent gesunken, da deutlich mehr Wohnungen für Menschen mit geringem Einkommen wegfallen, als neu gebaut werden. Neben Luxemburg als eines der wenigen europäischen Länder versuchen sich auch polnische Städte wie Jawor mit kostenlosem Nahverkehr, der Privatisierung von öffentlicher Infrastruktur zu stellen.

Einige Stadtforscher*innen befürworten die Qualitäten der Weberschen Stadtvorstellung, besonders die politische und soziale Verantwortung von Städten und Stadtbewohner*innen, und versuchen diese in aktuelle Stadtplanungsprozesse zu integrieren. Kritische Merkmale der Europäischen Stadt hingegen fordern sie abzulegen: Sowohl Weber als auch gegenwärtige Stadtmarketing-Strategien sind auf die geografische Verortung Europäischer Städte auf Zentraleuropa fokussiert. Dabei lassen sich als europäisch geltende Stadtstrukturen auch auf anderen Kontinenten finden, wie am Beispiel von Buenos Aires zu sehen ist, das als „Paris Südamerikas“ gilt. Nur als ein Beispiel unter vielen ist der Friedhof von Recoleta zu nennen, dessen Aufbau an den berühmten französischen Friedhof Père Lachaise erinnert.

Nicht zu vergessen ist, dass Webers Vorstellung der Europäischen Stadt eine stark zentraleuropäische Perspektive und Idealisierung darstellt. Schon immer waren Europäische Städte von sozialer Ungleichheit geprägt. Daher müssen heutzutage die historischen Wurzeln der Probleme Europäischer Städte angegangen und auf gegenwärtige Herausforderungen reagiert werden. Darunter fällt auch die Etablierung einer feministischen europäischen Stadtplanung, da viele Städte von Männern und für ihre Bedürfnisse gebaut wurden. Es ist kein Zufall, dass Autos in Städten viel Platz eingeräumt wird: Deutlich mehr Männer als Frauen nutzen das Auto als Verkehrsmittel. Indem man sich den Schwächen des Europäischen Stadtkonzepts bewusst wird, eröffnen sich Stadtplaner*innen und Stadtbewohner*innen neue Handlungsmöglichkeiten, demokratische Strukturen in Städten zu fördern und diverse Lebensentwürfe in Stadtplanungen einzubeziehen.

Neue Form der Kolonialisierung?

„Im akademischen Diskurs um Stadtplanung oder in der Praxis, gelten europäische Städte weiterhin als Leitbilder in Mexiko. Die US - amerikanischen Städte werden oftmals als die Bösen dargestellt, während die europäischen Städte die Guten sind. Trotzdem gibt es in Kolumbien und Brasilien Ausnahmen, in denen gelehrt wird, wie Städte aus der Perspektive des Globalen Südens gebaut und geplant werden können, ohne das Budget, welches europäischen Städten zur Verfügung steht.“ Cecilio Pedro Secunza Schott, Architekt aus Mexiko

Das Konzept der Europäischen Stadt ist geprägt von unausgeglichenen Machtverhältnissen. Unter anderem ist die Popularität des Leitbilds der Europäischen Stadt auf die Kolonialvergangenheit zurückzuführen: Die Urbanisierung entwickelte sich in den kolonisierten Gebieten nicht so flächendeckend wie in Europa, jedoch führte die ausbeuterische Welthandelsstruktur zu einem dramatischen Bevölkerungswachstum in den Küstenstädten, von wo aus die für den Weltmarkt bestimmten Rohstoffe entsandt wurden. Im Zuge dieser Ereignisse wurde das Europäische Stadtmodell auf architektonischer Ebene in Teilen umgesetzt, was noch heute an der Anordnung von öffentlichen Plätzen, Kirchen, Rathäusern und öffentlichen Bibliotheken im Zentrum von Städten wie Santiago de Chile zu beobachten ist. Gleichzeitig wurde das Europäische Stadtmodell aber transformiert, weil es auf einen anderen historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontext traf. Der Rassismus der Kolonialherren zeigte sich auch in der Planung der Städte: Es gab klar voneinander abgegrenzte Viertel.

Die Vorstellung, dass europäische Stadtmodelle weltweit implementiert werden können, ist noch heute aktuell und zeigt sich am Beispiel des dänischen Architekten Jan Gehl, der hohe Bezahlungen genießt, um die Welt reist und seine Vorstellung einer lebenswerten Stadt für Menschen vermarktet. Fahrradwege, Bänke, autofreie Zonen und vor allem mehr Platz in den Innenstädten für mehr öffentliches Leben sind Gehls kostenintensive Devisen. Zum Problem wird, dass Städte im Globalen Süden, deren Bevölkerungszahlen exponentiell steigen, wenig davon in der Praxis umsetzen können.

Es gibt viele Forscher*innen, die Strategien wie die Leipzig Charter on Sustainable European Cities, Sustainable Development Goals (insbesondere SDG 11) oder Smart City Konzepten kritisch gegenüberstehen. Diese Konzepte beschäftigen sich unter anderem mit einer globalen nachhaltigen Entwicklung von Städten. Die Implementierung dieser Konzepte kann nicht einmal in Ländern Europas gleich erfolgen und ist geprägt von zentraleuropäischen oder westlichen Vorstellungen von Nachhaltigkeit. Manche gehen soweit, dass sie diese Strategien als neue Formen der Kolonialisierung ansehen, wie zum Beispiel das Institut für Entwicklung und Frieden (INEF).

Die Europäische Stadt im Jetzt

Ohne seine Städte ist Europa undenkbar. Erkennbar ist aber, dass eine nostalgische Sichtweise die Europäische Stadt dominiert. Oftmals gerät in Vergessenheit, dass neben der historischen auch die gegenwärtige Diversität und Partizipation der Stadtbewohner*innen die Bedeutung Europäischer Städte formen.

Insbesondere in Zeiten der Digitalisierung verschieben sich die Grenzen des Urbanen und städtische oder europäische Lebensweisen verbreiten sich in ländlichen Regionen Europas und auf der ganzen Welt. Umgekehrt verbreiten sich auch außereuropäische Lebensweisen in Europa.

Die Europäische Stadt muss in der Vergangenheit und gleichzeitig in der Gegenwart und Zukunft überdacht werden. Es handelt sich um ein Konzept, das angesichts gegenwärtiger gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Umbrüche an seine Grenzen stößt. Das Europäische Stadtmodell hat durchaus seine Berechtigung, jedoch muss dieses auch Raum geben für neue Stadtmodelle, die von Stadtplaner*innen des Globalen Südens entwickelt werden und an die dort vorherrschenden urbanen Herausforderungen angepasst sind. Auch aus feministischer Perspektive braucht das Konzept der Europäischen Stadt neue Strategien, um soziale Gerechtigkeit in der Stadt zu gewährleisten.

Die aktive Auseinandersetzung mit der Europäischen Stadt als Leitbild in Stadtplanungsprozessen weltweit ist dringend notwendig, weil sich Menschen zunehmend mit ihren Städten anstelle ihrer Nationen identifizieren und diesen schon jetzt ein enormes Handlungspotenzial zugesprochen wird.

Es gibt nicht die eine Europäische Stadt, sondern Europäische Städte müssen vielfältig gedacht werden. Vor diesem Hintergrund wurde innerhalb des Artikels vereinfacht der Begriff „Europäische Stadt“ verwendet.

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