Die gebeutelte Rechtsstaatlichkeit in Europa

, von  Alexis Vannier, übersetzt von Laura Lubinski

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Die gebeutelte Rechtsstaatlichkeit in Europa
Thorbjørn Jagland, Generalsekretär des Europarates, hält die Lage des Journalismus in Europa für die fragilste seit dem Ende des Kalten Krieges. Fotoquelle: Flickr / Mathieu Nivelles / CC BY 2.0

Während die Zahl der Kriege und der gewaltsamen Konflikte laut Jahresbericht des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung in den letzten zehn Jahren zugenommen hat, scheint das Konzept der Rechtsstaatlichkeit nicht einmal mehr in Europa sein Versprechen auf einen wirksamen Schutz der Interessen seiner Bürger*innen erfüllen zu können.

Europa: Wiege der Rechtsstaatlichkeit

Per Definition [1] herrscht in einem Rechtsstaat eine demokratische Ordnung, die auf dem wesentlichen Prinzip einer allgemein verbindlichen Rechtssetzung basiert – auch und gerade als Begrenzung für die politische und soziale Organisation staatlicher Gewalt. Der Kern der Rechtsstaatlichkeit besteht aus drei Elementen: den Grundrechten, d. h. den wesentlichen Rechten jedes einzelnen Mitglieds der Gesellschaft, der Achtung der Hierarchie von Normen (internationale Verträge, Verfassung, Gesetze ...) und der Gewaltenteilung. Europa gilt hier als Vorbild, da auf dem alten Kontinent einst die ersten Texte entstanden, die Rechtsstaatlichkeit mit ihren Bestandteilen garantieren. Anzuführen sind die Magna Carta aus dem Jahr 1215 und die Bill of Rights von 1689 aus dem Vereinigten Königreich sowie die Schriften Montesquieus über die Gewaltenteilung im 18. Jahrhundert oder die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 in Frankreich. Doch auch diese Texte konnten die totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts nicht verhindern.

Traumatisiert von der entsetzlichen Politik vieler europäischer Regierungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts entschieden sich die Staaten dafür, auf internationaler Ebene die gegenseitige Verpflichtung einzugehen, demokratische Regeln einzuhalten. So wurde im Kielwasser der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 auf Initiative Winston Churchills im Jahre 1950 durch den im Jahr zuvor geschaffenen Europarat die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verabschiedet.

Die Einhaltung dieser Konvention wird vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der gegenüber vom Europäischen Parlament in Straßburg liegt, kontrolliert. Die Konvention umfasst eine Vielzahl von Artikeln, die insbesondere das Verbot der Anwendung von Folter (Artikel 3), das Recht eines*r jeden auf ein faires Verfahren (Artikel 6), das Recht auf Privatsphäre (Artikel 8), Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Artikel 9) oder auch Meinungsfreiheit (Artikel 10) garantieren. All diese Rechte stellen Schutzwälle gegen Verletzungen dar, die sich ein Staat zu Schulden kommen lassen kann. Nach einer Verurteilung durch den EGMR kann ein Staat dazu gebracht werden, seine Gesetzgebung in bestimmten Bereichen zu korrigieren - ein Beispiel ist der Fall des französischen Polizeigewahrsams.

Auch wenn sie von vielen (insbesondere russischen oder britischen) politischen Akteur*innen in Frage gestellt wird, überzeugt die Konvention, indem sie für 47 verschiedene Länder eine Garantie für Grundrechte bietet, darunter Ungarn, die Türkei und Aserbaidschan.

Tatsächlich wurde die Grundrechteproblematik jedoch von den Behörden der Europäischen Gemeinschaft etwa 30 Jahre lang bewusst verdrängt. Auch wenn die Römischen Verträge von 1957 auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Wahrung von Frieden und Freiheit Bezug nehmen, wollte die damalige Führungsriege nicht mit dem auf den Schutz von Grundrechten spezialisierten Europarat konkurrieren oder eine eigene anspruchsvolle Rechtssetzung festlegen. Erst in den 1970er Jahren begann der Europäische Gerichtshof, auf die Grundrechte Bezug zu nehmen – zum Nachteil von Staats- und Regierungschefs.

1992 wurde die Verpflichtung der Europäischen Union zur Achtung der Grundrechte festgeschrieben. Mit dem Vertrag von Amsterdam von 1997 wurde der berühmte Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union eingeführt, der es den Institutionen ermöglicht, einem Mitgliedsstaat das Stimmrecht zu entziehen, wenn dieser gegen die Grundwerte der EU verstößt, insbesondere das der Freiheit, der Gleichheit und der Rechtsstaatlichkeit. Schließlich wurde 1999 die EU-Grundrechtecharta verfasst. Auf anderen Kontinenten gibt es ebenfalls Instrumente zum Schutz von Grundrechten, darunter die Rechtsstaatlichkeit, zum Beispiel die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte der Organisation Amerikanischer Staaten von 1959 oder seit 1986 die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker.

Die EU als Zugpferd für die Garantie von Rechtsstaatlichkeit

Nach den Bestimmungen der Gründungsverträge müssen die Institutionen der Europäischen Union sicherstellen, dass Staaten, mit denen sie verhandeln, die Grundrechte in der Form respektieren, wie die EU sie interpretiert. Dies ist eine Möglichkeit, den Schutz von Menschenrechten in der Welt zu verbreiten. Unter dem Druck der europäischen Bürger*innen, die mit wachsamem Auge die vielen Schwachstellen der Globalisierung beobachten, haben die europäischen Institutionen die Bedrohungen angepackt, mit denen einige Regierungen der Rechtsstaatlichkeit zu Leibe rücken. So stehen zwei Länder besonders im Visier der Europäischen Kommission:

Im Dezember 2017 leitete die Kommission das Verfahren nach Artikel 7 gegen Polen ein, nachdem die Regierung die Unparteilichkeit des Obersten Gerichts Polens infrage gestellt hatte. Das zweite Land, dem das besondere Augenmerk der Kommission gilt, ist das Ungarn unter Viktor Orbán. In diesem Fall geht um Gesetze, die Angriffe auf Vereinigungen zum Kampf für Grundrechte, auf ausländische Universitäten und auf das ungarische Strafrechtssystem darstellen und die den europäischen Behörden Angst machen. Nichtsdestotrotz kam der Artikel 7 auch nach Aufforderung des Europäischen Parlaments nicht zum Einsatz.

Die bedrängte Rechtsstaatlichkeit in Europa

Trotz des leistungsstarken juristischen Arsenals und unabhängig davon, in welchem Maß sie in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet tatsächlich von gewalttätigen Handlungen betroffen sind, erlassen die europäischen Regierungen Gesetze, die jene Rechtsstaatlichkeit offen beeinträchtigen, für deren Einhaltung sie sich in der Vergangenheit mit verschiedenen Ansätzen engagiert haben. So bemängeln viele NGOs die von den Mitgliedstaaten und der EU getroffenen Entscheidungen zu Migration und Terrorismusbekämpfung.

In ihrem Jahresbericht 2018 über die Europäische Union macht die NGO Human Rights Watch auf die Verletzung der Menschenrechte und insbesondere der Meinungsfreiheit durch die Gesetzgebung in Polen, Frankreich, Ungarn und dem Vereinigten Königreich aufmerksam. Das Einfließen von Maßnahmen des Ausnahmezustands in allgemeines Recht und die Einschränkung der Befugnisse des Gerichts in Strafverfahren sind zwei der hervorgehobenen Maßnahmen.

Die Organisation Amnesty International verurteilt ihrerseits die unverhältnismäßigen Maßnahmen im Kampf gegen den Terrorismus, die individuelle Freiheiten mit Füßen treten und mitunter die Befugnisse und Unabhängigkeit der Justiz als Grundpfeiler der Rechtsstaatlichkeit infrage stellen. Das Fehlen einer international anerkannten Definition von Terrorismus führt dazu, dass die Staaten diesen selbst definieren – auch auf die Gefahr hin, den Begriff dadurch unscharf oder sehr weit zu fassen, was zu autoritären Tendenzen führen kann, wie beispielsweise wiederum die Rechtfertigung von Terrorismus. Die Europäische Union selbst bleibt davon nicht verschont. Im Entwurf einer Richtlinie aus dem Jahr 2016 schlägt die Europäische Kommission vor, das direkte oder indirekte „Anstiften zu einer terroristischen Straftat" als illegal zu erklären. Die Kommission geht so weit, die Freizügigkeit als grundlegendes Prinzip des europäischen Gebildes infrage zu stellen, indem sie mit einer Definition, die eine immense Unschärfe aufweist, das Verbot vorschlägt, zu Terrorismuszwecken ins Ausland zu gehen.

Im Hinblick auf die Pressefreiheit als notwendiges Gegengewicht zu jeder demokratischen Macht ist die Lage kaum besser. In einer so seltenen wie alarmierenden Erklärung hält Thorbjørn Jagland, Generalsekretär des Europarates, die Lage des Journalismus in Europa für die fragilste seit dem Ende des Kalten Krieges. In 32 der 47 Länder, die den Europarat bilden, stellt er 140 schwerwiegende Verstöße gegen diese Freiheit fest. Journalist*innen selbst sind zunehmend in Gefahr: Jagland erinnert an die Morde an der maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia, dem Slowaken Ján Kuciak und dem saudi-arabischen Journalisten Jamal Khashoggi in der Türkei, die in den vergangenen zwei Jahren verübt wurden. In den Mitgliedsstaaten des Europarates seien 130 Journalist*innen inhaftiert, davon 110 in der Türkei, was ein wachsendes und besorgniserregendes „Klima der Straflosigkeit" unterstreiche.

Anmerkungen

[1CORNU, G. Vocabulaire juridique.PUF 12ème édition, 2018.

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