Die Identität der EU im postfaktischen Zeitalter

Treffpunkt Europa Essay Wettberwerb

, von  Paulo Guimarães

Die Identität der EU im postfaktischen Zeitalter

„Wie scheint doch alles Werdende so krank“ Heiterer Frühling von Georg Trakl

Wenige Themen haben die Vorstellungskraft der europäischen Öffentlichkeit in den letzten Jahren so stark beschäftigt wie die Idee, dass wir in einer „postfaktischen Gesellschaft“ leben, in der „alternative Fakten“ mitunter bereitwillig akzeptiert werden. Besonders im Zusammenhang mit dem Brexit-Referendum und der medialen Berichterstattung über die US-Präsidentschaftswahl hat diese Idee an Bestand gewonnen. Sie bezieht sich darauf, wie gewisse Standpunkte im Rahmen emotional behafteter Diskussionen wiederholt aufrechterhalten werden, unabhängig davon, wie oft sie bereits falsifiziert wurden. Dies ist keine völlig neue Erscheinung und im Grunde genommen nicht mehr als eine Manifestation eines Bestätigungsfehlers in höheren Gesellschaftsschichten – der Unterschied zu früher ist aber, dass sie durch das Internet eine viel größere Tragweite erlangen konnte. Wie Mark Twain bekanntlich einmal sagte, Geschichte wiederholt sich nie, aber sie reimt sich oft.

Der Journalist George Gillett beschrieb dies einmal als Gegenreaktion auf die „wirtschaftliche Expertenmeinung, die ein Ersatz für wertebasierte politische Urteile wird.“ Wie wir aber sehen werden, zeigt eine eingehendere Analyse einen viel komplexeren, facettenreichen und systembedingten Sachverhalt.

Warum ist das wichtig?

Die Gefahren sind deutlich: Wenn es keinen sozialen Konsens bezüglich der Frage gibt, wie die Realität in ihren grundlegenden Prinzipien ausgestaltet ist, beginnt jede Unwahrheit unheimlicherweise der Wahrheit zu ähneln. Schlimmer noch, die Betonung der Irrelevanz des Strebens nach Wahrheit („meine Wahrheit“ scheint das Mantra unserer Zeit zu sein) bietet populistischen Hetzern ideale Voraussetzungen. Wenn es leichtfällt, schlecht informierte Menschen zu manipulieren, ist es noch einfacher, diejenigen zu überzeugen, die die Bedeutung oder gar die Existenz von Wissen, Weisheit und Wahrheit nicht erkennen. Politiker mit niederen Absichten müssen von bewussten Bürgern zur Verantwortung gezogen werden. Um dies zu erreichen, müssen wir jedoch durch ein großes Netz von soziokulturellen Annahmen verknüpft sein, die für die Bildung einer kollektiven Identität entscheidend sind. Leider ist es fraglich, ob die EU im Hinblick auf den Aufbau einer starken, europäischen Zivilgesellschaft erfolgreich war.

Wie kam es zum postfaktischen Zeitalter?

Die Diskussion über den problematischen Aufstieg der sogenannten „alternativen Fakten“ und „postfaktischer Wahrheiten“ wirft nicht selten die Frage auf, ob dieses Phänomen nicht ein weiteres Symptom für die Instabilität liberaler Demokratien und, im weiteren Sinn, für den Niedergang der westlichen Zivilisation ist, den der deutsche Historiker und Philosoph Oswald Spengler während der Zwischenkriegsjahre prophezeite. Es kann angeführt werden, dass dieses Problem in der Tat eine Auswirkung des Mangels an Bedeutung ist, der Gesellschaften wie unsere, die mit einer Identitätskrise konfrontiert werden, durchdringt. Aktuelle Herausforderungen im Zusammenhang mit der Migration und der europäischen Schuldenkrise haben diesen Effekt verschärft.

Die gesellschaftspolitischen Auswirkungen der Postmoderne und des für sie charakteristischen Relativismus sind vermutlich einer der Hauptursachen für diesen Zustand, denn eine Gesellschaft, in der es schwierig ist, ein allgemeingültiges Konzept von Gut und Böse zu entwickeln, stellt einen Nährboden für Zynismus und Misstrauen dar. Während die Frage danach, ob das grundsätzlich schlecht ist oder nicht, vom eigenen politischen Standpunkt abhängt, gibt es keinen Zweifel daran, dass diese kritische und herausfordernde Position etablierte soziale Annahmen abschwächt. Der Grad, bis zu dem diese Bewegung alleine die Wissenschaft durchdrungen hat (insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften), beweist seine hohe Relevanz. Die Art und Weise, auf die Geschichte geschrieben, gelehrt und dekonstruiert wird, hat zum Beispiel große Konsequenzen für die öffentliche Wahrnehmung der Vierten Gewalt, die traditionellerweise für die Informationsweitergabe und die Förderung öffentlicher Debatten zuständig ist.

Die umfassende Infragestellung aller Autorität und die Ablehnung der Rolle traditioneller Institutionen und Experten förderte, was der britische Philosoph Roger Scruton als die „Kultur der Originalität über Qualität“ bezeichnete – etwas, das auch heutzutage im Bezug auf die Informationen gilt, mit denen wir täglich konfrontiert werden. Auch ein kurzer Blick darauf, wie Nutzer sozialer Medien Nachrichten passiv zur Ablenkung nutzen, zeigt den Einfluss auf die Beziehung zwischen Journalismus und den Massen. Die jüngste Aussage des derzeitigen US-Präsidenten wird unser Interesse an einem Sonntagmorgen vermutlich eher wecken als eine ausführliche Analyse der italienischen Wahlen.

Allerding sollte die Postmoderne nicht als alleiniger Schuldiger dieses Bedeutungsverlusts angesehen werden. Zwei weitere parallel auftretende Phänomene, die das 20. Jahrhundert prägten, könnten ebenfalls dazu beigetragen haben: (1) Die abnehmende Rolle der Religion und der jeweiligen Institutionen, die für die Aufrechterhaltung einer gemeinsamen Moral verantwortlich sind, die auf philosophischen Grundlagen basiert; der erhöhte Lebensstandard, der eng mit der Vermassung höherer Bildung, Kommodifizierung von Informationen, Individualismus und Materialismus verbunden ist. Im Verbund führten diese Faktoren zu einer Aufsplitterung von Moral, der Verbreitung von Emotivismus und die strukturelle Unfähigkeit, intellektuell dazu fähig zu sein, die große Informationsmenge, mit der wir täglich konfrontiert werden, zu interpretieren und zu analysieren. Tatsächlich lassen sich viele Hinweise auf den anti-intellektuellen Diskurs in der westlichen Öffentlichkeit finden, vom Leugnen des Klimawandels über Impfgegner bis hin zu allerlei Verschwörungstheorien.

Diese Landschaft des Misstrauens gegenüber historischen und etablierten Säulen der westlichen Gesellschaft thematisiert auch Pascal Bruckner im Jahr 2006 in seiner Arbeit „The Tyranny of Guilt“. Darin behauptet er, dass tiefe westliche Schuldgefühle einen starken Einfluss auf die zeitgenössische politische Kultur hätten. Er spricht darüber, wie dieser Ausdruck des Narzissmus die Fähigkeit der Europäer einschränke, auf eine gesunde Weise mit den in der Vergangenheit begangenen Gräueltaten umzugehen und zugleich den Wert des Kontinents anzuerkennen, der uns das Konzept bürgerlicher Freiheiten, moderne demokratische Regierungen und den Abolitionismus gab. In diesem Zusammenhang kann auch gesagt werden, dass Bewegungen zur Einführung illiberaler Praktiken in Demokratien wie beispielsweise in Ungarn oder Polen auf diesen Bedeutungsverlust durch die Wiederbelebung alter Möglichkeiten der Herstellung einer kollektiven Identität setzen: Patriotismus und Religion – die bereits in der Vergangenheit Motive für Revisionismus darstellten, der die Grundlage für die Entstehung alternativer Fakten bildet.

Einfach ausgedrückt haben Menschen gezeigt, dass sie dazu bereit sind, ihre Freiheit teilweise aufzugeben, um Sinn zu gewinnen. Das Streben des Menschen nach Sinn ist schließlich, wie der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl behauptete, die Hauptmotivation in unserem Leben. Eine gesunde Gesellschaft sollte dazu fähig sein, diesen natürlichen Drang zu pflegen und zugleich ein klares Identitäts- und Wertebewusstsein zu besitzen.

Was kann die EU tun, um alternative Fakten zu bekämpfen?

Der Kern des Problems liegt nicht so sehr darin, dass bestimmte Kräfte auf diese postfaktische Realität drängen, sondern eher, dass wir als Europäer daran scheitern, diese Entwicklung aufzuhalten. Es gibt mehrere Mittel, die in diesem Zusammenhang hilfreich sein können. Das Offensichtlichste von allen ist vielleicht, sicherzustellen, dass zusätzliche Anstrengungen unternommen werden, um die Fähigkeit zur Kritik in den Klassenräumen zu verbessern und stärker auf europäische Metanarrative zu fokussieren. Ein Verständnis der Geschichte der Staatsbürgerschaft, Politik und Religion auf dem Kontinent sollte Bestandteil der Curricula sein. Um anti-liberale Bewegungen zu bekämpfen, muss man die endlosen Wahlmöglichkeiten, die der Liberalismus bietet, zu ertragen lernen. Dieser Vorschlag ist sicherlich dahingehend problematisch, dass die Grenze zwischen politischer Bildung und Propaganda sehr leicht verschwimmen kann, aber wir sollten diese Gelegenheit dennoch vorsichtig nutzen.

Die Generaldirektion Bildung, Jugend, Sport und Kultur sollte überdies die Reflexion der Effizienz seiner aktuellen Instrumente und Programme zur Förderung einer europaweiten Identität weiterführen. Der Ausbau von Initiativen wie dem sehr erfolgreichen Austauschprogramm „Erasmus“ und die Einführung eines europaweit empfangbaren, mehrsprachigen Nachrichtendienstes in jedem Mitgliedsstaat, ähnlich wie Euronews, sollten in Betracht gezogen werden. Zudem ist es auch wichtig, dass die EU widerstandsfähig gegenüber ausländischer Meinungsmache wird, besonders von Seiten Russlands, das über ein gut etabliertes Netzwerk verfügt, komponiert von Mediendiensten wie „Sputnik“ oder „Russia Today“. Dies muss aber nicht bedeuten, dass die Relevanz nationaler oder regionaler Loyalitäten innerhalb der Union zurückgesetzt wird.

Wenn wir dem postfaktischen Zeitalter den Krieg erklären und deutlich machen wollen, dass wir die Behauptung, es gebe alternative Fakten, nicht akzeptieren, ist es wichtig, dass eine engagierte Bürgergesellschaft deutlich Position gegenüber Lügen und Täuschungen von mächtigen Individuen und Institutionen bezieht. Wie der österreichische Dichter Georg Trakl in seinem Gedicht „Heiterer Frühling“ so poetisch zum Ausdruck brachte, jeder Verfall trägt auch Möglichkeiten zur Erneuerung in sich. Durch die Festigung einer widerstandsfähigen und starken kollektiven Identität, die wir zwar bereits in uns tragen, aber tragischerweise nicht nutzbar machen, können wir Europäer zeigen, dass wir auch große Herausforderungen für unsere liberalen Demokratien überwinden können.

Dieser Text wurde im Rahmen des TPE-Essaywettbewerbs verfasst und aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

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