Im politischen Diskurs ist es verbreitet, an die Menschlichkeit zu appellieren. Seien es entweder die Opfer von Grenfell Tower oder die, die Theresa May’s eiserne Sparpolitik am härtesten getroffen hat. Es wird darauf gepocht, was richtig und was falsch ist. Dies ist eine grundlegende Lektion, die eigentlich jeder schon in der Kindheit hätte lernen und verinnerlichen müssen. Ausgegrenzte Teile der Gesellschaft nutzen erbittert das Mittel der politischen Analogie von vornherein und fast instinktiv. Ganz im Bewusstsein der Fehler, die unsere Vorfahren gemacht haben, erschafft dies einen geschichtlichen Imperativ in der Gegenwart. Zusätzlich tut unser blindes Vertrauen diesbezüglich auch sein Werk, um einen breiten Narrativ voranzutreiben.
Der Brexit im Jahr 2016 und der Aufstieg einer scheinbar konservativen, von der UK Independence Party gestützten Nonsens-Ideologie, bestätigte für viele die isolationistische Spaltungsrhetorik. Unsere Mainstream-Medien verkündeten das Versprechen, der Brexit sei endlich die Lösung für das Masseneinwanderungsproblem. Unsere politischen Wahlkampagnen waren übersät von Idealen, “Großbritannien zurückzuholen”, die Grenzen wieder zurückzugewinnen und dieses Land zu seinem alten imperialen Glanz zurückzuführen. Als stellvertretende Vorsitzende der Liberal-Demokratischen Partei merkte Jo Swanson an, dass Großbritannien zu einem „bloßen Felsvorsprung vor den Küsten Nordeuropas“ verkomme und dafür eine missliche Geschichte von „uns“ gegen „die“ werde. Inzwischen, inmitten von all dem, spielte sich der ganze Schrecken der syrischen Flüchtlingskrise auf der Weltbühne ab. Großbritannien zauderte, während der Rest der Welt missbilligend den Zeigefinger erhob als nur das Mindeste bei der Flüchtlingsaufnahme geleistet wurde von dem, was als unser „fairer“ Anteil der „Last“ durch die Einwanderung erforderlich gewesen wäre. Zu dem Zeitpunkt schien es eindeutig zu sein, und auch schon lange vorher, dass das Vereinigte Königreich schon längst den Traum einer „gemeinsam stärkeren“ Gemeinschaft aufgegeben hatte.
Wir dürfen uns nicht täuschen lassen, die Fehler der Flüchtlingskrise waren eine Anreihung von kollektivem Versagen - aber es gab Verbündete. An der Spitze der Debatten und Proteste waren einfache Menschen aus der Gesellschaft, oft selber Teil einer Minderheit, die dem institutionellem Versagen der Regierung ausweichen wollten. Es gab Mahnwachen mit Menschenketten in den Straßen Londons und darüber hinaus, überall waren Plakate, auf denen „refugees welcome“ zu lesen war. Diese Menschen fühlten sich unwohl, bloße wehrlose Zuschauer zu sein und womöglich auf der falschen Seite der Geschichte zu landen. Sie fingen an, die typische Sprache der konservativen Mainstream-Medien und der Geschäftsmänner, die sich als Politiker ausgaben zu meiden. „Xenophobie” war deren Wort des Tages. Für sie waren Immigranten und Flüchtlinge mehr als nur „Schwärme“, eine „Flut“ oder „Plünderer“, sie waren Lebewesen, sie waren Menschen.
Zu dieser Zeit waren historische Gleichnisse hilfreich, das Ausmaß der begangenen Gräueltaten zu kontextualisieren. Letztlich zwang es die Öffentlichkeit, die Auswirkungen ihrer Einstellung zu überdenken oder zumindest anzuerkennen. Im selben Moment müssen wir uns die Frage stellen, warum eine sogenannte „nukleare Option und Aktion“ für die Öffentlichkeit erforderlich war, um die Menschlichkeit vieler Männer, Frauen und Kinder anzuerkennen, die an unsere Küsten gespült wurden. Darüber hinaus müssen wir hinterfragen, warum Bilder lebloser Körper nötig waren, um eine öffentliche Reaktion zu erreichen - besonders das sehr bekannte Foto des eines an die griechische Insel Kos angespülten kleinen Jungen. Ein Bild, das sehr bald den Hashtag #KiyiyaVuranInsanlik erweckte, der übersetzt „Menschlichkeit an Land gespült“ lautet. In der heutigen politisch umstrittenen Ära und mit dem so einfachen Zugang zur Geschichtsschreibung, muss sich unser moralisches Bewusstsein auf mehr als ein paar geschickte Tricks und Verweichlichung fokussieren. Es sollte schon in uns stecken.
Weniger als zwei Jahre nach diesen Ereignissen und mit vielen Rechtsordnungen, die an den ganzen Auswirkungen arbeiten und versuchen, zu vereinfachen, neu zu strukturieren und umzusiedeln, steckt der breite politische Diskurs noch in den Kinderschuhen. Viele der Flüchtlinge warten noch darauf, aus dem Vakuum herausgeholt zu werden, das durch die Untätigkeit der Staaten verursacht wurde. Auch die Art, mit der wir auf Opfer von Katastrophen reagieren, besonders auf solche von religiösen oder ethnischen Minderheiten, ist noch zu ändern. Wir sahen diese Einstellung nach den Ereignissen vom Grenfell Tower-Feuer, bei welchem 71 Menschen ums Leben kamen. Viele von denen, die entweder überlebten oder vom Feuer eingeschlossen wurden, befanden sich in einem schwachen sozioökonomischen Status oder warteten auf Asylurteile.
Ähnlich zurückhaltend sehen wir, dass Debatten rund um die Black Lives Matter-Bewegung, die „schwarze“ Leben vom intrinsischen Wert auf eine Schwelle mit allen anderen Menschen stellen, als aufrührerisch angesehen werden oder Rechtfertigung bedürfen. Unsere transatlantischen Nachbarn erleben gerade dasselbe Phänomen im Bezug auf Trump bei jeder möglichen politischen Frage, angefangen bei den Rechten der Frauen, über Polizeigewalt bis zur Einwanderung. Regelmäßig blieb der Diskurs über das Verhalten von Gesellschaften im Bezug zu Minderheiten oder Katastrophenopfern in nicht-westlichen Ländern auf der Strecke. Mehr und mehr müssen diese sich rechtfertigen, öffentlich Mitgefühl und Aufmerksamkeit erregen und einen Aufschrei auslösen, über Metaphern, Gleichnisse und jegliche nützlichen Mittel zur Veranschaulichung eines Problems. Wann können wir uns von der Abhängigkeit von emotionaler Manipulation abwenden? Wann beginnen wir an, Erwachsene, die im Informationszeitalter leben, für ihre Ansichten verantwortlich machen zu können?
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