Die weiß-rote Hoffnung in Belarus: Was geschah und wie darüber berichtet wurde

, von  Ricarda Nierhaus

Die weiß-rote Hoffnung in Belarus: Was geschah und wie darüber berichtet wurde
Demonstrationen in Belarus halten seit dem vermeintlichen Wahlbetrug bei den Präsidentschaftswahlen im August an. Foto: Unsplash / Andrew Keymaster / Unsplash License

Seit August beeindruckt uns die Zivilgesellschaft in Belarus mit ihrem Aufbegehren gegen die Diktatur. Was waren die Auslöser für die Proteste? Und welche Fehler können wir in der Beobachtung aus westlicher Perspektive meiden?

Seit mehreren Monaten erreichen uns immer wieder Bilder von großen Demonstrationszügen in Minsk und anderen Orten in Belarus. Sie machen deutlich, dass die Ergebnisse der letzten Präsidentschaftswahl von großen Teilen der Bevölkerung nicht anerkannt werden. Es hat sich eine Protestbewegung formiert, die Neuwahlen fordert und sich gegen die staatliche Gewalt wehrt. Bei den Demonstrationen kommen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Zielen zusammen, deren Motivation nicht verallgemeinert oder umgedeutet werden sollte.

Anhaltende Proteste und starke Mobilisierung


Immer wieder versuchen Polizeikräfte, die Demonstrationen gewaltsam zu zerschlagen.

Foto: Unsplash/ Andrew Keymaster / Unsplash License


Unmittelbar nach der Wahl im August, als die Anschuldigungen des Wahlbetruges immer lauter wurden, begannen die großen Proteste in allen größeren Städten des Landes. Der Staat begegnete der Frustration der Bevölkerung mit starker Polizeipräsenz. Spezialkräfte der Polizei versuchten gewaltsam die Demonstrationen zu zerschlagen – wobei es schon in den ersten Tagen zu Verletzungen, tausenden Festnahmen und mindestens zwei ungeklärten Todesfällen kam.

Als Reaktion auf das gewaltsame Auftreten der Polizei schlossen sich zudem immer mehr Frauen zu Demonstrationen zusammen, um den gewaltbereiten staatlichen Sicherheitskräften zu entgehen, die vorrangig gegen (junge) Männer vorgingen. Im September und Oktober kam es kontinuierlich zu Protestaktionen gegen den autoritären Machthaber. Am 1. November fand in Minsk eine Demonstration mit ca. 20.000 Teilnehmenden statt. Seit Mitte November formieren sich neue Proteste mit zehntausenden Demonstrierenden anlässlich des Todes des mutmaßlich von Sicherheitskräften getöteten Oppositionellen Raman Bandarenka. Ein EU-Sprecher für Außen- und Sicherheitspolitik verurteilte die gewaltsame Unterdrückung der belarussischen Bevölkerung. Die Intensität der anhaltenden Proteste ist daher inzwischen ebenso der Kritik an den Wahlvorgängen geschuldet wie auch eine Antwort auf massive Polizeigewalt und die Inhaftierungen von Oppositionellen, Journalist*innen und Demonstrierenden.

Der Wahlbetrug, den Viele kommen sahen

Im Zentrum der Proteste steht die Präsidentschaftswahl vom 9. August, bei der der Regierung Wahlbetrug vorgeworfen wird. Doch diese Wahl war nur das neueste Ereignis in der bewegten Geschichte des Landes, das letztendlich das Fass zum Überlaufen brachte. 1994 wurde Amtsinhaber Alexander Lukashenko bei den letzten als frei betrachteten Wahlen zum Präsidenten gewählt. Seitdem hat die OSZE keine der Wahlen mehr offiziell anerkannt. Somit ist er bis heute der erste und einzige Präsident seit der Unabhängigkeit Belarus’ nach der Auflösung der Sowjetunion. Bei der diesjährigen Wahl soll Lukashenko nach Angaben der Regierung rund 80 Prozent der Stimmen erhalten haben. Die Opposition um die Kandidatin Sviatlana Tsikhanouskaya beansprucht jedoch 60 Prozent für sich und weist auf umfassende Wahlmanipulation hin.

Die autoritäre Regierung Lukashenkos veranlasste in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Einschränkungen der Pressefreiheit, Verbote von Kundgebungen und die Verfolgung von Oppositionellen. Deshalb ist es für die politische Opposition im Land nahezu unmöglich, durch offizielle Prozesse einen Politikwechsel zu vollziehen. Das zeigte sich auch dieses Jahr im Vorfeld der Präsidentschaftswahl, als der Oppositionskandidat Sergej Tsikhanouskyi wegen der Organisation einer nicht genehmigten Veranstaltung festgenommen wurde. Durch diese Festnahme wurden weitere politische Aktivitäten der Opposition und seine offizielle Kandidatur verhindert. Daraufhin stellte die Opposition kurzfristig seine Ehefrau Sviatlana als Kandidatin auf. Ähnlich erging es dem ehemaligen Botschafter Waleryj Tsapkala, der nicht als Kandidat zugelassen wurde und das Land verlassen musste. An seiner Stelle führte schließlich ebenfalls seine Frau Veranika Tsapkala den Wahlkampf gemeinsam mit Sviatlana Tsikhanouskaya und anderen fort. Zu dem medienwirksamen weiblichen Trio der Oppositionsführerinnen gehört auch Maria Kalesnikava, eine international erfolgreiche Musikerin, die im Wahlkampf den inhaftierten Kandidaten Wiktar Babaryka vertrat. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Umgang der belarussischen Regierung mit der Corona-Pandemie nicht der einzige Grund für die Unzufriedenheit der Bürger*innen ist.

Was fordern die Demonstrierenden?

Bereits im Vorfeld der Wahl konnte die Opposition zu für Belarus ungewöhnlich großen Demonstrationen mobilisieren. Beginnend im Mai fanden Versammlungen mit stetig wachsender Beteiligung statt, bis zehn Tage vor der Wahl in der Hauptstadt Minsk 34.000 Menschen zusammenkamen. Der November ist damit der siebte Monat anhaltender Proteste – unermüdlich steht die Bevölkerung für ihre Forderungen ein. Die belarussische Journalistin Maria Sadouskaya-Komlach identifizierte schon wenige Tage nach der Wahl drei zentrale Forderungen der Zivil-gesellschaft an die Regierung: Die Freilassung der politischen Gefangenen, Gerichtsverfahren zur Polizeigewalt und die Anerkennung von Sviatlana Tsikhanouskaya als legitime Wahlsiegerin. Andernfalls sprach sie sich, wie viele andere, für sofortige Neuwahlen aus.

Dies ist eine Version einer Meinungsumfrage, die ursprünglich von Chatham House, dem Royal Institute of International Affairs, veröffentlicht wurde.

Internationale Reaktionen

Kurz nach der Wahl wurden in westlichen Medien die ersten Analysen und Kommentare veröffentlicht, in denen versucht wurde, die Situation einzuordnen. Dabei trat oft Unkenntnis der Region und ihrer Geschichte zu Tage. Auch zeigte sich ein Drang, die Motivation der Demonstrierenden durch interna-tionale Motive zu erklären. Jedoch lassen sich bei weitem nicht alle Ereignisse in Osteuropa auf einer einfachen Achse zwischen pro-Putin und pro-EU platzieren. Solch ein Versuch gesteht der belarussi-schen Gesellschaft weder die Komplexität noch die Eigenständigkeit zu, aus der heraus sie aktuell handelt. Die EU kritisierte das Vorgehen von Lukashenkos Regierung direkt, auch wenn konkrete Maßnahmen erst nach langen Verhandlungen getroffen werden konnten. Zunächst verhängte die EU Sanktionen gegen die Verantwortlichen für das Wahlvorgehen und die Polizeigewalt. Anfang November folgten weitere Sanktionen gegen einige Regierungsvertreter und Lukashenko selbst. Die neuesten Sanktionen richten sich gegen Unternehmen und Institutionen, die Lukashenko finanzieren. Bereits im September konnte Lukashenko allerdings eine Einigung mit der russischen Regierung erzielen, die ihm einen Kredit garan-tierte. Dies war als Gegenmittel zu den Sanktionen befürchtet worden, doch die Details des Kredits deuten darauf hin, dass das Geld von Russland weder die Wirtschaftslage langfristig verbessern noch Lukashenkos Sicherheitskräfte finanzieren können wird.

Außerdem wurde der Opposition eine hohe Anerkennung und Würdigung ihrer unermüdlichen Anstrengungen zu Teil. Am 22. Oktober verlieh das Europa-Parlament der belarussischen Opposition kollektiv den Sacharow-Preis für den Einsatz zur Verteidigung der Menschenrechte.

Neue Beteiligung der Frauen

Als besonderes Merkmal der Proteste wird oft die führende Rolle der Frauen betont – allerdings entspricht die westliche Interpretation der Proteste als Aufbegehren der Frauen nicht ganz der Realität vor Ort. Zwar entwickelten die Oppositionsführerinnen erhebliche Strahlkraft und zeigten neue Möglichkeiten von Frauen als politische Akteure in Belarus, aber ihre spezielle Rolle entstand in erster Linie aus der Unterdrückung der Oppositionspolitiker im Frühjahr. Ebenso wenig wie die Frauenproteste nach der Wahl, war dies eine geplante feministische Revolution. Vielmehr haben die Initiatorinnen der Frauenproteste den vorherrschenden Sexismus von Polizei und Militär ausgenutzt, um demonstrieren zu können, ohne der gleichen Gewalt wie zuvor viele Männer ausgesetzt zu sein.

Doch selbst diese Taktik bot nur für kurze Zeit einen gewissen Schutz. Seit Anfang Oktober werden auch vermehrt Frauen bei Protesten festgenommen und für mehrere Tage inhaftiert. Am 7. September wurde eine der Oppositionsführerinnen, Maria Kalesnikova, festgenommen. Sviatlana Tsikhanouskaya und Veranika Tsapkala flohen ins Ausland. Die Ereignisse der vergangenen Monate sollten daher nicht zu vorschnellen Schlussfolgerungen über die Motivation der Frauen und ihre Rolle in der Gesellschaft verleiten.

Der Sonderweg der belarussischen Protestbewegung

Dass sich die verschiedenen Aspekte der belarussischen Revolution nicht ohne weiteres zusammenfügen lassen, sollte nicht dazu führen, sie in falsche Schablonen zu pressen. Denn die Protestbewegung ist, wie Belarus selbst, sehr vielfältig. In dem Land mit 9,5 Millionen Einwohner*innen können Streiks in staatlichen Fabriken zeitgleich mit Protesten an Universitäten stattfinden. Es können sowohl medi-enwirksame Bilder bei Demonstrationen in der Hauptstadt Minsk entstehen, als auch dezentrale Proteste in den Innenstädten, Wohnvierteln und Hinterhöfen anderer Landesteile. Auch der Umgang mit modernen Kommunikationswegen ist ambivalent. Mithilfe anonymer Telegram-Kanäle können nicht nur Informationen über die Proteste verbreitet werden, sondern auch staatliche Propaganda. Einerseits richtet sich die Opposition mit der Bitte um Unterstützung und der Forderung nach weiteren Sanktionen gegen die Regierung an die EU. Andererseits werden parallel auch Forderungen an europäische und amerikanische Telekommunikationsunternehmen geäußert, davon abzusehen, auf Erlass der Regierung das mobile Internet an den Protestorten abzuschalten. Die Protestbewegung kann sich in einem erst seit 30 Jahren unabhängigen Land auf nationale Einheit berufen, ohne sich von nationalistischen Motiven vereinnahmen zu lassen. Maria Sadouskaya-Komlach titelte schon im August für die Zeitschrift Foreign Affairs: „Belarus Goes Its Own Way“.

Die belarussischen Bürger*innen zeigten in den vergangenen Wochen starkes politisches Bewusstsein und ausgeprägten Gemeinschaftssinn. Dabei bleibt der friedliche Wandel ihr oberstes Ziel. In Staaten wie der Ukraine, Moldova, Georgien und Armenien konnten sie sehen, wie sich gewaltsame Konflikte anderswo entfalten. Folglich wollen die meisten Bürger*innen gewaltsame Verläufe vermeiden. In einer Umfrage des britischen Think Tanks Chatham House betonten in Belarus im September 61 Prozent der Befragten ihre volle Unterstützung für weitere friedliche Proteste.

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