Die Zusammensetzung der neuen EU-Kommission: Eine Analyse

, von  übersetzt von Siméon-Cedric Dannheim, Laura Mercier, Louise Guillot

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Die Zusammensetzung der neuen EU-Kommission: Eine Analyse
Ursula von der Leyen präsentierte am 10. September die Zusammensetzung der kommenden EU-Kommission. Foto: EC - Audiovisual Service / Etienne Ansotte / © European Union, 2019

Ursula von der Leyen präsentierte am 10. September die Verteilung der Zuständigkeiten und den Aufbau des Kollegiums der Kommissionsmitglieder. Man erkennt neu gebildete Generaldirektionen, eine überraschende Namensgebung – und ersieht ganz klar die Prioritäten der kommenden europäischen Exekutive.

Was sind die Neuheiten im Vergleich zur Kommission Juncker?

Eine neue Kommissionspräsidentin bringt entsprechend einen neuen Denkansatz mit sich. Zumindest auf dem Papier. Ursula von der Leyen entschied sich im Organigramm für eine kreisförmige Anordnung ihres Teams – sicherlich ein Versuch die Hierarchie zwischen den Kommissar*innen und ihren Vize-Präsident*innen aufzubrechen. Vor fünf Jahren entschied sich Jean-Claude Juncker für ein Organigramm in Tabellenform. Das Juncker-Organigramm sollte die Rolle der Vize-Präsident*innen verdeutlichen, die er selbst erst aufgewertet hatte – mit dem Risiko, eine gewisse Hierarchie innerhalb der Kommission zu schaffen.

Doch der Aufbau des Kollegiums ist nicht die einzige Neuheit. Die Präsidentin der EU-Kommission entscheidet über die Ressortverteilung und den Aufgabenzuschnitt. Es lässt sich eine vergleichsweise deutliche Neuordnung der europäischen Exekutive im Vergleich zur vorherigen feststellen. Ursula von der Leyen entschied sich in einem Versuch der Vereinfachung, den Kommissar*innen verständlichere Ressorttitel zu geben, als es ihr Vorgänger Juncker tat. Sicherlich wollte sie damit bezwecken, dass die Europäische Kommission einfacher zu verstehen ist. Jedoch bleibt die Reichweite der Zuständigkeiten der Kommissar*innen ausgeprägt. Die Aufgaben werden in den Aufgabenbeschreibungen weiter aufgegliedert, als es die Titel erkennen lassen. Das Ressort „Klimapolitik und Energie“ wird „ein europäischer Green Deal“. Der Bereich „Justiz und Inneres“ ist aufgesplittet. „Beschäftigung, soziale Angelegenheiten, Qualifikationen und Mobilität der Arbeitnehmer“ wird hingegen schlicht zum EU-Kommissar für „Arbeitsplätze“. Man könnte meinen, es gibt keinen Platz mehr für das soziale Europa…

Andererseits verschwinden gewisse Schlüsselwörter gänzlich. Damit schwindet auch die Wichtigkeit, die ihnen beigemessen wurde. Konkret handelt es sich um Forschung, Kultur, Bildung oder etwa soziale Angelegenheiten. Neue Ressortverbindungen wie „Innovation und Jugend“ entstehen – oder auch „Digitales und Wettbewerb“ in den Händen von Margrethe Vestager.

Andere große Neuerung: die Ankündigung einer neuen Generaldirektion. Tatsächlich bringt eine Neuordnung der Portfolios der Kommissar*innen auch eine Restrukturierung der EU-Verwaltung und daher der Generaldirektionen mit sich. Die neue EU-Kommissionspräsidentin kündigte eine Generaldirektion Verteidigung und Weltraum an. Die neue Generaldirektion soll die Arbeit der Französin Sylvie Goulard, Kommissarin für Binnenmarkt, unterstützen, zu deren Aufgaben auch ein Europa der Verteidigung und die Weltraumprogramme gehören.

Wer trägt welche Verantwortung?

Ursula von der Leyen ist es gelungen, eine nahezu paritäre Kommission aufzustellen. Es gibt 13 Frauen und 14 Männer im neuen Kollegium der Kommissionsmitglieder. Es gibt nun mehrere Möglichkeiten, die Besetzung der Kommission zu betrachten. Dazu gehören die geografische, aber auch die politische Verteilung der Dossiers.

Treu ihrem Programm, das sie im Juli im Europäischen Parlament vorstellte, vertraut Ursula von der Leyen zwei ehemaligen Spitzenkandidat*innen, Frans Timmermans (Sozialdemokraten, S&D) und Margrethe Vestager (Renew Europe, RE) die dicksten Portfolios an. Der Niederländer bekommt die Verantwortung, „einen europäischen Green Deal“ in den ersten hundert Amtstagen von Ursula von der Leyen auszuarbeiten. Margrethe Vestager ist wiederum für die digitalen Themen verantwortlich. Sie behält zudem die Zuständigkeit für Wettbewerbsrecht, welches sie bereits in ihren ersten fünf Jahren betreute. Die Klimapolitik und die Digitalisierung werden also zukünftig in den Vordergrund gestellt.

Im vergangenen Juli, als sich die Staats- und Regierungschef*innen im Europäischen Rat auf die Präsident*innen der Europäischen Kommission, des Europäischen Rats, der Europäischen Zentralbank und den Hohen Vertreter der Außen- und Sicherheitspolitik einigten, kurz „EU-Topjobs“ genannt, kritisierten zahlreiche Beobachter*innen den Mangel an Persönlichkeiten aus Mittel- und Osteuropa. In der neuen EU-Kommission vergab Ursula von der Leyen nun mehrere wichtige Ressorts an Kommissar*innen aus Mittel- und Osteuropa.

Die Gemeinsame Agrarpolitik wird etwa von Janusz Wojciechowski aus Polen verantwortet. Er wird die großangelegte Reform fortsetzen, die sein Vorgänger Phil Hogan begann. Der Jüngste unter den Kommissionsmitgliedern und einziger Grünen-Politiker, Virginijus Sinkevicius aus Litauen, ist Kommissar für Umwelt (der europäische Green Deal ist indes nicht seine Zuständigkeit). Das Ressort der Energiepolitik wurde an die neue EU-Kommissarin Kadri Simson aus Estland vergeben. Die Rumänin Rovana Plumb wird für Verkehr zuständig sein. Die Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik wird in die Hände eines neuen EU-Kommissars aus Ungarn gegeben. Diese Entscheidung wirft Fragen auf. Der zuständige EU-Kommissar muss mit den Kandidatenländern für eine EU-Mitgliedschaft zusammenarbeiten. Er muss ihnen gegenüber die Beitrittsbedingungen verteidigen, zu denen die Einhaltung des EU-Rechts gehört und die Werte der Europäischen Union. Es verhält sich nun so: Der Ungar László Trócsányi, Ex-Justizminister unter Viktor Orban, zögerte in der Vergangenheit nicht, die Pressefreiheit einzuschränken, die Unabhängigkeit der Justiz zu beschneiden und die Freiheit der Wissenschaft zu beschränken. Die Liste an Verstößen ließe sich fortsetzen…

Für Handel wird Phil Hogan aus Irland zuständig sein, der momentan noch Kommissar für Landwirtschaft ist. Vor dem Hintergrund des Brexit ist das eine symbolisch starke Geste und eine klare Botschaft an das Vereinigte Königreich, mit dem Phil Hogan über die zukünftigen Beziehungen verhandeln wird. Im Übrigen wird der neuen EU-Kommission kein britisches Mitglied angehören. Es war der Wunsch des britischen Premierministers Boris Johnson, keine*n Kommissar*in zu nominieren – schließlich soll das Vereinigte Königreich, wenn es nach ihm ginge, bis zum Amtsantritt der neuen EU-Kommission am 1. November bereits aus der Union ausgetreten sein. Ursula von der Leyen bleibt vorsichtig und erinnert daran, dass London eine Kandidatin oder einen Kandidaten vorschlagen muss, wenn der Austritt bis zum 31. Oktober nicht gewährleistet ist.

Wie von vielen erwartet, wurde Sylvie Goulard ein großes Portfolio zugesprochen: die Binnenmarktthemen, aber ebenso der Aufbau der europäischen Verteidigungspolitik gehören dazu. An anderer Stelle ist es Didier Reynders aus Belgien, dem die große Verantwortung zugetragen wurde, den Rechtstaat in der Europäischen Union zu verteidigen. Didier Reynders übernimmt somit einen Teil des bisherigen Ressorts von Frans Timmermans. Somit könnte er zukünftig den Mechanismus zur Aussetzung von Strukturfondsmitteln im Falle einer Verletzung des Rechtstaats verteidigen, wie von seinem Land und Deutschland vorgeschlagen.

Die große Frage bleibt vorerst, ob die EU-Kommissar*innen in der Lage sein werden, die Gemeinschaftsinteressen der Union zu verteidigen – und nicht nur nationale oder parteipolitische. Genau hierin liegt letztlich die Rolle und die Verantwortung der EU-Kommissar*innen.

Wo bleibt der „EU-Kommissar für gute Laune“?

Die Reaktionen auf die neu vorgestellte EU-Kommission ließen nicht auf sich warten. Nach den üblichen Glückwünschen an die neuen EU-Kommissar*innen begann die Zeit der Einordnung. Die politischen Kommentator*innen ließen sich nicht lange bitten und kommentierten bald die originellen Titel, die manchen Ressorts gegeben werden.

Dem Griechen Margaritis Schinas wird das Ressort „schützen, was uns ausmacht“ anvertraut, wozu augenscheinlich die Einwanderungspolitik und der Grenzschutz gehören. Die Kroatin Dubravka Šuica bekommt ein neues Ressort namens „Demokratie und Demografie“ zugesprochen, während Valdis Dombrovskis aus Lettland eine „Wirtschaft im Dienste der Menschen“ Wirklichkeit werden lassen soll. Die Ressorttitel sollen die neuen Prioritäten der Europäischen Kommission verdeutlichen. Mit den Titeln ändert sich das Vokabular der Europäischen Kommission; die Ressorttitel lassen die Leser*innen aber häufig im Unklaren.

Nun wo das neue Kollegium vorgestellt wurde, ist es an der Zeit für die 26 EU-Kommissar*innen, sich an die Arbeit zu machen. Der Anhörungsmarathon vor den Abgeordneten des Europäischen Parlaments begann diesen Montag.

Für weitere Informationen über die neue EU-Kommission gibt es eine Bilderstrecke des deutschsprachigen Spiegel-Online: „Das Wunschteam von Ursula von der Leyen“

Für weitere Informationen über die neue EU-Kommission gibt es eine Bilderstrecke des deutschsprachigen Spiegel-Online: „Das Wunschteam von Ursula von der Leyen“

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