Von einem „historischen Tag“ sprach der türkische Außenminister Ahmed Davutoglu nach dem Abschluss des neuen Flüchtlingsabkommens vom 18. März 2016 zwischen der EU und der Türkei. Das Abkommen sieht unter anderem einen Austausch von Flüchtlingen mit und ohne legaler Bleibeperspektive zwischen den beiden Partnern vor, ebenso finanzielle Unterstützung seitens der EU für die Türkei. Der wahrscheinlich symbolträchtigste Teil des Abkommens besteht jedoch darin, dass die Türkei im Gegenzug für ihre Kooperationsbereitschaft nicht nur Visaerleichterungen erhält, sondern auch die Beitrittsverhandlungen mit der EU fortgesetzt werden. Hierzu soll zunächst das Kapitel Haushaltspolitik verhandelt werden. Für den türkischen Außenminister eine Lösung, die aufgrund der aktuellen Situation und der engen Verbundenheit zwischen der Türkei und der EU unverzichtbar sei – die Flüchtlingskrise zeige dies nur noch umso deutlicher: „Heute erkennen wir, dass die Türkei und die EU dasselbe Schicksal, dieselben Herausforderungen, dieselbe Zukunft haben. Es gibt keine Zukunft der Türkei ohne die EU, und keine Zukunft der EU ohne die Türkei."
Zumindest für die Flüchtlingskrise hat Davutoglu damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Zwar wird eine Kooperation zwischen EU und Türkei das Flüchtlingsproblem nicht lösen können, da damit noch immer die Fluchtursachen bestehen bleiben. Allerdings trägt das neue Abkommen dazu bei, die Flüchtlingsströme zu kontrollieren, und bedeutet einen wichtigen Schritt in Richtung tief greifenderer Kooperation, die angesichts der sich immer weiter zuspitzenden Lage in Syrien und der Ausbreitung der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) im Interesse beider Partner liegen dürfte.
Lange Verhandlungen, unklare Motive
Tatsächlich sind die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ein Thema, das bereits seit fast dreißig Jahren zum öffentlichen europäischen Diskurs gehört. Im Jahr 1987 reichte die Türkei ihren Antrag auf Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein. Zehn Jahr später erklärte die EU, dass die Türkei für einen EU-Beitritt infrage käme. Die Beziehungen der Türkei zu Europa sind jedoch noch älter, da bereits 1963 in Ankara ein Assoziationsabkommen unterzeichnet wurde, seit 1995 besteht zudem eine Zollunion. Erst im Jahr 1999 wurde der Türkei der offizielle Status eines EU-Beitrittskandidaten verliehen, sechs Jahre danach begannen die Verhandlungen, weil die Türkei dazu zunächst Zielvorhaben hatte erfüllen müssen. Ein zentrales Kriterium zum Erfolg dieser Verhandlungen ist die Implementierung des zusätzlichen Protokolls zum Ankara-Assoziationsabkommen zu Zypern, welches eine problemlose Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Zypern anstrebt. Bevor dies nicht der Fall ist, werden acht Kapitel des Acquis, das heißt aller verbindlichen europäischen Rechtsakte, nicht im Rahmen der Beitrittsverhandlungen geöffnet, kein Kapitel wird provisorisch geschlossen – was zentrale Voraussetzung für ein Ende der Verhandlungen wäre.
Dass eine starke Partnerschaft zwischen EU und Türkei wichtig ist, wird durch Kooperation immer wieder bekräftigt. Für den türkischen Außenminister teilen die beiden Partner ein und dasselbe Schicksal, immer wieder erwähnt er, wie wichtig der EU-Beitritt für sein Land sei. Das Verhalten von Präsident Erdogan spricht jedoch eine andere Sprache: Nach innen befürwortet er eine Verfassungsänderung zur Etablierung eines präsidentiellen Systems, das Erdogan weiter reichende Kompetenzen in wesentlichen Bereichen verleihen würde. Eine derartige Änderung im System muss natürlich nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Türkei zu einem autokratischen Staat wird; aber sie würde es Erdogan wesentlich leichter machen, sein Vorgehen gegen die Opposition oder ungeliebte Journalisten noch weiter zu verschärfen. Auch seine Außenpolitik lässt Zweifel daran, dass Erdogan ein Partner ist, mit dem man kooperieren kann, will oder soll: Bei Waffenlieferungen an den IS verschloss er lange Zeit beide Augen, statt eines konstruktiven Lösungsansatzes verfolgt Erdogan nicht nur eine scharfe Rhetorik, sondern setzt die Angriffe auf die Kurden im eigenen Land und außerhalb der Grenzen fort. Gemeinsamkeiten mit der EU, die in Konflikten seit jeher auf vermittelnde Diplomatie setzt, sind hier kaum zu erkennen: Während im Vertrag von Lissabon unter anderem ein Beitrag zu Frieden und Sicherheit als Ziel der Union genannt werden, verhält sich der türkische Präsident aktuell eher wie ein Brandstifter.
Menschenrechte noch entfernt von europäischen Standards
Dass es noch erheblich Unterschiede zwischen der Menschenrechtslage in der EU und der Türkei gibt, bestätigt auch der Freedom House Index, welcher politische Rechte und bürgerliche Freiheiten in allen Staaten der Erde analysiert und anschließend die Staaten als „frei“ (Rating 1.0-2.5), „teilweise frei“ (3.0-5.0) und „unfrei“ (5.5-7.0) klassifiziert. Schneidet der Wahlprozess zwar recht gut ab, zeigt sich jedoch, dass das System durch die Sperrhürde von 10% bei Parlamentswahlen wenig durchlässig ist und damit dem politischen Pluralismus, insbesondere zum Nachteil der Kurden, einen Riegel vorschiebt. Darüber hinaus ist Korruption ein großes Problem im Land, Geldwäsche und Bestechung gehören zum politischen Betrieb. Die größten Defizite zeigt die Türkei jedoch in Bezug auf bürgerliche Freiheiten, da Meinungs-und Religionsfreiheit zwar theoretisch gewährleistet, aber praktisch durch diverse Mechanismen teils stark eingeschränkt werden. So werden beispielsweise oppositionsnahe bzw. regierungskritische Zeitungen teilweise unter die Kontrolle der Regierung gestellt oder Journalisten verhaftet; die alawitische Minderheit wird systematisch diskriminiert, Juden und orthodoxe bzw. armenische Christen sind offiziell anerkannt, aber ebenfalls durch einige Verbote eingeschränkt. Es gibt einige – zum Teil sehr aktive – Nichtregierungsorganisationen, Überwachung und Diskriminierung sind auch hier allgegenwärtig. Ein gesetzlicher Schutz vor Diskriminierung oder Gewalt wegen sexueller Orientierung existiert nicht, sodass es zu starken Einschränkungen individueller Recht vor allem Homosexueller kommt; vor allem Migranten sind nicht selten Opfer von Menschenhandel oder Zwangsarbeit. All dies wird bestärkt durch ein System der Rechtsstaatlichkeit, welches an großen Defiziten leidet: Der Einfluss der Regierung auf Richter ist groß, und unter dem Deckmantel von Antiterrorgesetzen sind weitreichende Eingriffe in Menschenrechte möglich geworden.
Fortschreitende Einschränkungen von fundamentalen Rechten, geplanter Staatsumbau und eine kritische Außenpolitik – all dies sind Faktoren, die Zweifel daran aufkommen lassen, ob die Türkei ein seriöser Beitrittskandidat ist. Aktuell lässt sich dies verneinen: Scheint die EU für die Türkei zwar eine geopolitisch interessante Allianz zu sein, entfernt sich die türkische Regierung mit ihrer Politik immer weiter vom Herzstück europäischer Politik. Ja, an die Wirtschaft, welche europäische Integration stets vorangetrieben hat, wird sich die Türkei anpassen können. Aber da Menschenrechte in der EU nicht nur ein fundamentaler Wert, sondern auch nicht verhandelbar sind, werden die türkischen Beitrittsgesuche spätestens an diesem Punkt an ihre Grenzen stoßen. Zwar hat die EU während der Beitrittsverhandlungen einen enormen Gestaltungsspielraum innerhalb der Mitgliedsstaaten, aber dafür müssen diese auch bereit sein, Reformen umzusetzen. Solange sich die Türkei ihre Zugeständnisse in den Beitrittsverhandlungen durch Flüchtlingsabkommen ertauscht, kann man nach dieser Reformbereitschaft lange suchen.
Kommentare verfolgen: |