Europäische Perspektive: Junckers letzte Rede zur Lage der Union

, von  Gesine Weber, Nico Amiri, Radu Dumitrescu

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Europäische Perspektive: Junckers letzte Rede zur Lage der Union

Gestern hat Jean-Claude Juncker seine letzte Rede zur Lage der Union gehalten. Die Chefredakteur*innen der verschiedenen Sprachversionen kommentieren.

Gesine Weber, Chefredakteurin von treffpunkteuropa.de

Jean-Claude Juncker war schon immer gut darin, die Herzen von Europäer*innen ein bisschen höher schlagen zu lassen. Zwischen all den Bürokrat*innen in der EU-Hauptstadt war er immer jener realistischer Träumer, der niemals die Hoffnung verlor und an die europäische Idee glaubte, allen Krisen und Populist*innen und aller Kritik zum Trotz. Und mit seiner letzten Rede zur Lage der Union hat er es wieder getan. Die diesjährige Rede war eine Liebeserklärung, sie war leidenschaftlich, und durch die gesamte Rede zog sich wie ein roter Faden, was Juncker zum Schluss sagte: “Ja, ich liebe Europa, und das wird auch immer so bleiben”.

Der Inhalt der Rede war, um ehrlich zu sein, weniger innovativ als er hätte sein können. Es ist kaum überraschend, dass Juncker in diesen Tagen über “Weltpolitikfähigkeit” spricht, da Europa sich mehr denn je mit den Auswirkungen der Globalisierung konfrontiert sieht. Aber es war auch nicht nötig, in dieser Rede mit ausgefallenen Ideen auftrumpfen zu wollen; viel wichtiger war es, in diesem Rahmen jene Vorschläge laut und deutlich zu äußern, die den Diskurs prägen und von politischen Entscheidungsträger*innen jetzt und von den Parteien im Wahlkampf aufgegriffen werden.

Juncker hat es richtig gemacht: Er legte den Fokus auf das kommende Jahr - oder eher die kommenden acht Monate -, anstatt sich selbst und seine Kommission zu beweihräuchern. EU zuerst, dann das Ego: Das ist eine lobenswerte Einstellung. Gleichzeitig ist sich Juncker auch vollkommen bewusst, dass die EU jetzt liefern muss und sich auf lange Sicht reformieren muss - nicht, um Junckers Platz in den Geschichtsbüchern zu sichern, sondern um Erfolg zu haben und vielleicht gar, um zu überleben. Trotz einer zögernden Merkel und einem innenpolitisch geschwächten Macron kann er darauf zählen, dass das deutsch-französische Tandem seine Sorgen und größtenteils auch seine Visionen teilt. Diese Rede war kein Abschied, sie war eine klare Ansage: Juncker will Ergebnisse sehen. Hoffen wir, dass es ihm gelingen möge.

Radu Dumitrescu, stellv. Chefredakteur thenewfederalist.eu

„Wir sollten unserer Europäischen Union mehr Wertschätzung entgegenbringen“

In seiner Rede unterstreicht der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor dem ganzen Kontinent die Bedeutung der Vergangenheit und Gegenwart der Europäischen Union, widmet den Großteil seiner Beachtung jedoch ihrer Zukunft. Er gelobt, dass Europa immer ein „Garant des Friedens“ sein wird, dessen Ruf auf ewig „nie wieder Krieg“ lauten wird.

Juncker präsentierte auch die wirtschaftlichen Errungenschaften der Europäischen Union: Wachstum in 21 aufeinanderfolgenden Quartalen, 12 Millionen neue Jobs, die niedrigste Jugend-Arbeitslosigkeit seit 2000. Aber es waren nicht seine Versprechen für die Zukunft oder die Auflistung der Leistungen, die herausstachen. Es waren seine Forderungen: „Wir sollten unserer Europäischen Union mehr Wertschätzung entgegenbringen.“

Die Europäische Union verlangt Respekt. Nicht durch die Gewalt von Waffen, Bomben oder Drohungen, sondern durch ihre Erfolge. Die Union verlangt, laut Juncker, Respekt von ihren Bürger*innen, die vor Fake News, Armut, Missbrauch, Krankheiten und externen Bedrohungen beschützt werden soll, aber auch vor dem expansiven Russland und den widerspenstigen Vereinigten Staaten unter Trump. An dieser Stelle erwähnt der Kommissionspräsident das Massaker in Idlib, die fortschreitende Integration des westlichen Balkans und die wachsende Partnerschaft zwischen Afrika und Europa.

Die Europäische Union verlangt auch Respekt von ihren Mitgliedsstaaten. Juncker erklärt: „Ich akzeptiere nicht, dass die Kommission für alle Versäumnisse […] allein haftbar gemacht wird. […] Sündenböcke sitzen in allen Institutionen, die wenigsten davon in der Kommission und im Parlament.“ Der Euro, „nur 20 Jahre nach seiner Einführung“ und dennoch die „zweitgrößte Währung“ der Welt, muss ihre Bedeutung auf dem Weltschauplatz finden.

Zusammen kann Europa, dank des Programms Galileo, „nach den Sternen greifen“. Aufgeteilt in Nord und Süd, Ost und West, links und rechts, bleibt es eine kleine Union unbedeutender Staaten, die nach Vorteilen suchen. Jedoch sind manchmal die Unterschiede zwischen meinen Nachbar*innen und mir sichtbarer als die Sterne.

Nico Amiri, Chefredakteur euro-journal.nl

Er ist ein politischer Präsident: ein wirklich überzeugter Europäer mit konservativem Erbe, aber progressiven Ideen. Jean-Claude Juncker hat seinem Publikum immer erzählt, wie er über die europäischen Idee, der Europäischen Union und ihren Zustand denkt.

In der Rede zur Lage der Union vergangenes Jahr sagte Juncker, die EU habe Rückenwind in ihren Segeln. Er hatte Recht, aber die europäischen Institutionen haben ihre Zeit nicht genutzt, um die Europäische Union krisenfester zu machen.

Dieses Mal hat Juncker klar gemacht, dass sein*e Nachfolger*in die Vorschläge umsetzen muss, an denen die jetzige Kommission arbeitet. Der Euro muss gestärkt werden, die europäische Außenpolitik harmonisiert und Demokratie im System der EU entwickelt werden. Juncker hat seine Visionen klar dargelegt, und der*die nächste Kommissionspräsident*in muss daran arbeiten. Er oder sie muss noch politischer sein.

Es bleibt zu hoffen, dass jemand in der nächsten Rede zur Lage der Union im Sommer 2019 auf einige von Erfolgen geprägte Monate zurückblicken kann - nach den Europawahlen, die ein besonderes Moment europäischer Demokratie werden könnten.

Die Übersetzung der Rede ins Deutsche findet ihr hier.

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