Europäische und nationale Identitäten – Wo ist der Unterschied?

, von  Rhiannon Erdal, übersetzt von Ricarda Häusler

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Europäische und nationale Identitäten – Wo ist der Unterschied?

Identitäten bestehen per Definition aus einer Vielzahl von Schichten und Facetten. Ist es den europäischen Bürger*innen also möglich, eine dualistische Identität – einerseits eine nationale, andererseits eine europäische - aufzubauen und zu wahren? Was unterscheidet diese beiden Identitäten voneinander und worin gleichen sie sich? Wir betrachten, wie nationale Identitäten aufgebaut sind, worin sie sich von der europäischen Identität unterscheiden aber auch, in welchen Punkten sie sich widerspiegeln.

Dieser Artikel erschien im Original am 29. Juni 2019.

Nationale Identität: Allein gegen den Rest der Welt

Die Schöpfung einer nationalen Identität ist ein soziales Konstrukt auf Grundlage von „Gemeinsamkeiten“ der Individuen, die zusammen eine Nation bilden: eine Geschichte, eine Sprache und eine gemeinsame Kultur, aber auch das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe, die sich von anderen Gruppen unterscheidet. Tatsächlich basiert dieses Zugehörigkeitsgefühl typischerweise auf der Abgrenzung von einer externen Gruppe, die aus Individuen besteht, welche nicht zur selben Nation gehören („die Anderen“). Wenn ich zum Beispiel sage: „Ich bin Engländer*in“, dann drücke ich damit gleichzeitig aus, dass ich kein*e Deutsche*r bin. Die Übernahme von Elementen der nationalen Identität formt unsere persönliche Identität in Glaubens- und Wertesystemen, welche wiederum unsere Selbstwahrnehmung und unsere Beziehung zur Welt außerhalb unserer eigenen Nationen, zur Welt „der Anderen“, beeinflussen.

Man könnte sagen, dass die nationale Identität auf zwei Ebenen funktioniert: Auf der einen Ebene steht die Treue gegenüber der Nation in Hinblick auf Ethnie und Religion. Die Kurd*innen beispielsweise bilden dieses nationale Zugehörigkeitsgefühl aufgrund ihrer Ethnie, ihrer Sprache und ihrer Kultur, obwohl es offiziell keinen kurdischen Staat gibt. Auf der anderen Ebene steht die Treue gegenüber den Staat mit Blick auf die Legislative und den Staat als Institution. Letzteres ist der Ursprung all unserer Werte und bildet das Fundament für unser nationales Bewusstsein und unsere Vision von der Nation.

Historisch gesehen, hat dieses Zugehörigkeitsgefühl zu einer Nation zum Patriotismus geführt und für ein Pflichtgefühl gegenüber der Nation gesorgt. Eine wiederkehrende Idee des Patriotismus ist deswegen der Wille zur Verteidigung des Landes und der Lebensart und manifestiert sich sogar im Krieg, um das Land vor Invasion zu verteidigen, als Held „für sein Land zu sterben“ und für einen größeren Einfluss zu kämpfen. Kurz, Patriotismus definiert sich über die Überzeugung, die eine Nation über die anderen hat. Die Ursache für diese Überzeugung liegt wahrscheinlich darin begründet, dass die nationale Identität auch in unserer persönlichen Identität und unserer Weltanschauung steckt. In seiner Rede „Initiative für Europa“ hat der französische Präsident Emmanuel Macron die Wichtigkeit eines vereinten Europas betont und Robert Schuman mit folgenden Worten zitiert: „Europa war noch nicht vereint, da hat es Krieg gegeben.“

Der Aufbau einer europäischen Identität

Die „paneuropäische“ Identität ist nichts völlig Neues. Genau wie die nationale Identität stützt auch sie sich auf Säulen wie Geld, Politik und gemeinsame Werte oder, auf einer symbolischeren Ebene, auf die europäische Flagge und die Europahymne. Dennoch spüren wir die paneuropäische Identität nicht so direkt wie die nationale, da die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bis dato keine Sprache oder Traditionen teilen, die wir auf alltäglicher Basis und oftmals auch ganz unbewusst nutzen. Aber muss das bedeuten, dass diese beiden Identitäten, die paneuropäische und nationale, nicht miteinander vereinbar sind?

Warum sollten sie das nicht sein? Vielleicht weil eine der größten aktuellen Bedrohungen für die europäische Integration und das europäische Projekt das Erstarken populistischer Kräfte ist. Diese nationale Tendenz hin zum Protektionismus, um die Souveränität des eigenen Landes aufrechtzuerhalten, ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass das nationale Zugehörigkeitsgefühl fester Bestandteil unserer persönlichen Identität ist. Denn dies treibt uns an, die Einheit unseres Landes bewahren zu wollen.

Doch die Kultivierung einer europäischen Identität ist der entscheidende Faktor für das europäische Projekt und die europäische Integration. Auf diese Weise könnte die EU wie eine politische und ökonomische Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten und Zielen agieren, welche sich wiederum in ihrer Politik und Gesetzgebung widerspiegeln. So entstünde außerdem ein viel größeres Gefühl der Einheit unter den Individuen und den Nationen, das dabei helfen würde, den Grundstein für die europäische Integration zu legen.

Donald Tusk: „Wir bilden eine kulturelle Gemeinschaft“ [1]

Auch die Medien spielen eine wichtige Rolle in der Förderung eines Bewusstseins für die nationale Identität. Monty Python, Shakespeare und die Rolling Stones z.B. haben auf die englische Identität Bezug genommen. Auf europäischer Ebene gibt es die europäische Presse und sogar europäische Medien wie ARTE oder Eurovision. Auch die sozialen Medien dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Aber sind diese kulturellen und medialen Elemente ausreichend, um sich europäisch zu fühlen?

Die verschiedenen Bildungssysteme in Europa spiegeln die Bemühung um die Entwicklung einer europäischen Identität wider. In den meisten europäischen Schulen ist es Pflicht, so früh wie möglich eine europäische Fremdsprache zu erlernen. Hierbei handelt es sich um einen wichtigen Fortschritt, denn die Sprache ist ein wesentlicher Grundpfeiler der nationalen Identität, da sie auch immer eine Geschichte und Tradition repräsentiert. Einige Psychologen wie Steven Pinker sind sich einig, dass die Sprache unsere Weltsicht formt. Daher hilft uns das Erlernen einer europäischen Fremdsprache dabei, die Weltsicht unserer Nachbar*innen in Europa zu verstehen. In einigen Ländern, wie Großbritannien, Deutschland, Spanien, Ungarn und Kroatien ist das aber nur optional. Deswegen spricht sich der Europäische Rat dafür aus, dass alle Schulabgänger*innen ab 2025 mind. zwei europäische Sprachen sprechen sollen.

Den Multilinguismus anzunehmen anstatt eine gemeinsame Sprache aufzuzwingen, hilft dabei, die Identität der Nationalstaaten zu bewahren und „Einheit in Vielfalt“ zu leben, wie es im Vertrag von Maastricht festgehalten wurde. Auf diese Weise können die nationalen Identitäten und die europäische Identität koexistieren und „kulturelle Familien“ bilden. Es ist gerade dieser kulturelle Pluralismus, der Europa so einzigartig macht. Allerdings ist ebenjener teilweise doch problematisch hinsichtlich der Abgrenzung von „wir“ und „die anderen“, die durch die nationale Identität entsteht (Bsp.: „Ich bin Engländer*in, ich bin kein*e Deutsche*r.“) Kann ein Individuum also überhaupt eine dualistische Identität ausbilden, geschweige denn eine vielfache?

Natürlich ist es möglich von sich zu behaupten, dass man mehreren Nationen angehört. Ich persönlich habe z.B. die doppelte Staatsbürgerschaft, Vorfahren mit fünf verschiedenen Nationalitäten, bin in zwei verschiedenen Ländern aufgewachsen und bin damit ganz sicher nicht der einzige. In einer Welt, die sich unaufhaltsam globalisiert, haben auch immer mehr Menschen mehrere Nationalitäten und Staatsbürgerschaften. Viele denken, dass dieser Identitätspluralismus die nationale Identität schwächt, aber ich denke ganz im Gegenteil, dass er sie bereichert. Die nationale Zugehörigkeit wird auf viele Weisen und auf verschiedenen Niveaus gespürt und gelebt.

Auf einem individuellen Niveau passt sich die Identität in der Regel der Kultur an. Nun ist die Europäische Union allerdings noch in erster Linie ein politisches Gefüge. Meiner Meinung nach schließt das eine das andere jedoch nicht zwangsläufig aus. Aristoteles hat geschrieben: „Der Mensch ist ein politisches Wesen“ („Zoon politikon“). Auf dieser Grundlage gibt es keine Grenzen zwischen unserem kulturellen und politischen Leben.

Tatsächlich bemüht sich die Europäische Union Werte und Ziele in ihrer Politik zu bewahren, die auf die historischen Traditionen und Ereignisse zurückgreifen und Europa zu dem gemacht haben, was es heute ist. Die Geschichte Europas ist gerade durch die verschiedenen Nationen geprägt worden, sodass die Europäische Union als Erweiterung der Nation betrachtet wird.

Vielfalt, Einheit und „Einheit in Vielfalt“

Die nationalen Identitäten werden durch ihre Individualität bekräftigt. Sie definieren sich über eine Sprache, eine Geschichte und ein gemeinsames Bewusstsein durch Bildung, Kultur und Politik. Ist die nationale Identität unter diesen Bedingungen wirklich anders als die europäische? Vielleicht in dem Sinne, dass die nationale Identität auf der Unterscheidung von anderen Nationen beruht. Doch können wir auf europäischer Ebene nicht „wir“ und „die anderen“ gleichzeitig sein? Die Vereinigung der nationalen Identitäten zu einer Gemeinschaft würde ein viel größeres „Wir“ schaffen, das sich von anderen politischen Lagern wie China oder den USA abgrenzen würde und so ein mächtigerer Akteur auf der Weltbühne wäre.

Anmerkungen

[1Bericht von Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates, im Europaparlament anlässlich der Oktobersitzung des Europäischen Rates und der Präsentation der Tagesordnung der Vorsitzenden des 24.10.2017.

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