Zypern: Kandidat*innen aus einem Niemandsland

Europawahl auf einer geteilten Insel

, von  Marie Menke

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Europawahl auf einer geteilten Insel
Ein UN-Wachposten im Norden Nikosias. Neben der Flagge der international nicht anerkannten TRNZ weht die der Türkei.
Foto: Unsplash / Free To Use Sounds / Creative Commons

Nikosia, die Hauptstadt Zyperns, ist als letzte geteilte Hauptstadt Europas bekannt. Die Grenze, die quer durch ihre Altstadt führt, müssen nördlich der UN-Pufferzone wohnende, türkische Zypriot*innen überqueren, um von ihrem Recht Gebrauch zu machen, bei den Europawahlen 2019 ihre Stimme abzugeben. Ein Blick auf die Mittelmeerinsel.

Chroniken der türkischsprachigen Zeitung Afrika stapeln sich auf einem Hocker, unzählige Bücher und leicht vergilbte Zeitungsausgaben auf dem Schreibtisch dahinter. Afrika ist eine kleine Zeitung mit einer Auflage von 1500 Exemplaren. Hinter ihr steht Herausgeber Sener Levent, einer der türkischen Zypriot*innen, die 2019 für das Europaparlament kandidieren. Im Kreis um die Chroniken in der Mitte seines Büros stehen auf dunklem Fliesenboden unterschiedliche Stühle mit bunten Kissen, die an einen Flohmarkt erinnern. Nur die schneeweiße iPad-Schachtel auf dem Zeitungsstapel wirkt fehl am Platz.

An einem Regal hängt eine weiße Flagge, auf der eine kupferfarbene Insel und zwei Zweige eines Olivenbaums abgebildet sind: die Flagge der Republik Zypern. Das Gebiet, in dem das Hochhaus steht, das Levents Redaktion beheimatet, liegt jedoch im Norden Nikosias und damit außerhalb der Kontrolle der Republik Zypern. Auf dem Schreibtisch steht ein alter Fernseher: Der Bildschirm des eckigen Metallkastens zeigt in schlechter Qualität und flackernden Farben die Aufzeichnungen der Sicherheitskameras. „Wer hier arbeitet, der muss die Schwierigkeiten akzeptieren, die sich uns täglich stellen“, sagt Levent. Für das Veröffentlichen eines Comics, der die türkische Regierung verspottete, steht er aktuell vor Gericht. Auch die Redaktion wurde in der Vergangenheit bereits mehrfach angegriffen.



Levent in der Redaktion von Afrika. Foto: Marie Menke


Levent spricht kaum Englisch, neben Türkisch aber fließend Russisch. Wer weder noch spricht, versteht ihn nur, wenn er die Worte „Erdoğan“ und „Faschist“ in einem Satz benutzt, was oft vorkommt. Dafür dass er sich nicht den Mund verbieten lässt, ist er sowohl auf Zypern als auch in der Türkei berühmt bis verschrien. „Ich teile alle Informationen, die ich habe, mit jedem ohne Ausnahmen“, sagt er über seine eigene Arbeit. Mit seiner Kandidatur für das Europaparlament möchte er klarstellen, dass der „Wahnsinn auf Zypern nicht weitergehen kann.“

Entlang der Grünen Linie

Levent ist nicht der einzige zypriotische Kandidat, der vor den Europawahlen für Furore sorgt, aber er ist einer von ihnen. Die neuere Geschichte der Insel wird von Konflikten zwischen den beiden größten Volksgruppen, den griechischen und den türkischen Zypriot*innen, und dritten Akteuren, darunter die Garantiemächte Griechenland und Türkei sowie Großbritannien als ehemalige Kolonialmacht, geprägt. Die gewaltvollen Auseinandersetzungen der 60er und 70er Jahre und zuletzt der Militärcoup der griechischen Junta sowie die Invasion des türkischen Militärs im Jahr 1974 zwangen die Mehrheit der türkischen Zypriot*innen dazu, in den Norden der Insel zu fliehen, während die griechischen Zypriot*innen versuchten, der Gewalt im Süden zu entkommen.

Die Pufferzone der Vereinten Nationen teilt heute die Insel und erstreckt sich auch quer durch das historische Zentrum der Hauptstadt Nikosia. Der dortige Ledra Palace Checkpoint ist einer mehrerer, an denen heute das Durchqueren der Pufferzone und das Überqueren der sogenannten Grünen Linie möglich ist. Wer von dem Checkpoint aus in Richtung Norden geht, kann Levents Redaktion fußläufig erreichen. In ähnlicher Distanz in Richtung Süden sollen während der Europawahlen Wahllokale aufgebaut werden. Wie viele Zypriot*innen ihre Stimme abgeben werden, ist nicht zuletzt von den logistischen Vorkehrungen abhängig, die die Republik Zypern vorab trifft.

Am 1. Mai 2004 trat sie der Europäischen Union bei, nachdem nur eine Woche zuvor der Versuch einer Wiedervereinigung der Insel durch den nach dem damaligen UN-Generalsekretär benannten Annan-Plan an einem Referendum gescheitert war. Im Norden der Insel ist das EU-Recht daher ausgesetzt. Die dort ausgerufene Türkische Republik Nordzypern (TRNZ) wird international ausschließlich von der Türkei als eigenständiger Staat anerkannt. Sener Levent hingegen gehört zu jenen scharfen Kritiker*innen, die ihre Existenz als „fortwährende Besetzung“ Zyperns durch das türkische Militär bezeichnen.

Wahlen als logistische Herausforderung

Jene türkische Zypriot*innen, die im Norden der Insel leben, haben ein Recht darauf, das Europäische Parlament zu wählen. Wahllokale gibt es jedoch ausschließlich in dem durch die Regierung der Republik Zypern kontrollierten Süden. Bei den Europawahlen 2014 kam es zu bürokratischen Ungereimtheiten und langen Schlangen an den Grenzübergängen. Sorge, ob die Republik Zypern in diesem Jahr besser vorbereitet ist, wird in diesem Jahr erneut laut – gerade weil das Interesse an den Wahlen insbesondere unter den türkischen Zypriot*innen groß zu sein scheint.



Nikosia: In den Bergen ist die Flagge der TRNZ zu erkennen. Foto: Marie Menke


81 000 türkische Zypriot*innen haben sich laut Schätzungen auf den Wahllisten eingetragen. Die Organisation für Islamische Zusammenarbeit ist die einzige internationale Organisation, die die TRNZ anerkennt und ihr Beobachterstatus gewährt. Die Europawahlen sind also für Wähler*innen, die international kaum Gehör finden, eine Chance ihre Meinung zu äußern. Spannend sind die Wahlen aus der Sicht der Insel auch, weil es die einzigen sind, bei denen türkische und griechische Zypriot*innen überhaupt Vertreter*innen der jeweils anderen Volksgruppe wählen können.

Etwa 50 Wahllokale südlich der Grünen Linie sollen das sicherstellen. Sollten sich alle auf den Wahllisten eingetragenen türkische Zypriot*innen gleichmäßig auf diese aufteilen, müsste jedes Lokal 1620 Bürger*innen die Wahl ermöglichen. Zum Vergleich: Griechische Zypriot*innen können in einem von 1050 Wahllokalen ihre Stimme abgeben. 2014 gingen 266 891 von ihnen zur Wahl. Sollte sich diese Zahl wiederholen, müsste jedes Lokal mit durchschnittlich 254 Wähler*innen rechnen. Ob den türkischen Zypriot*innen die Wahl allein logistisch ermöglicht wird, kann entscheidend sein: Der jetzige Abgeordnete Zyperns, der unter allen erfolgreichen Kandidat*innen 2014 am wenigsten Stimmen bekam, wurde von knapp 16 000 Zypriot*innen gewählt. 81 000 Wähler*innen kommt daher große Entscheidungsgewalt zu.

Prognosen: DISY verliert an ELAM

Zugleich warnt die de facto nur den Süden der Insel kontrollierende Republik Zypern, dass die Jüngeren unter den griechischen Zypriot*innen sich wenig interessiert für die Europawahlen zeigen. Für die dort etablierten Parteien hat der Wahlkampf längst begonnen: Eine Studie, die die englischsprachige Cyprus Mail im April zitierte, sieht die Dimokratikos Synagermos (DISY) mit 24 Prozent führend. DISY gilt als christdemokratisch und konservativ; ihre Abgeordneten zählen im Europaparlament zur Europäischen Volkspartei (EVP). Für die aktuelle Regierungspartei wäre es ein Verlust, sollte sich die Prognose bewahrheiten: Bis zu fünf Prozent soll sie potenziell an die griechisch-nationalistische und euroskeptische Ethniko Laiko Metopo (ELAM) verlieren.

Mit 21 Prozent bleiben die Prognosen für die Anorthotiko Komma Ergazomenou Laou (AKEL) hingegen stabil. Die frühere kommunistische Partei vertritt heute vor allem sozialdemokratische Standpunkte. Trotz ihres Selbstverständnisses hat sie während ihrer Regierungszeit beispielsweise die Marktwirtschaft auf der Insel nicht in Frage gestellt. Ihre Abgeordneten zählen zu der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken / Nordischen Grünen Linke (GUE/NGL).

Der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D) gehören sowohl die auf 8 Prozent geschätzte Dimokratiko Komma (DIKO) als auch die auf 3,1 Prozent geschätzte Kinima Sosialdimokraton (EDEK) an. Nach den Europawahlen 2014 stellten DISY und AKEL je zwei Abgeordnete sowie DIKO und eine Koalition aus EDEK und den Grünen jeweils einen.



Im Süden Nikosias weht die griechische neben der Flagge der Republik Zypern.
Foto: Pixabay / dimitrisvetsikas1969 / Pixabay License


Mögliche Premiere: Türkisch-zypriotische Kandidat*innen

Außerhalb der in der Republik Zypern etablierten Parteien und ihrer Fraktionen im Europaparlament kandidieren zwei türkisch-zypriotische Bewegungen: zum einen die kommunistische Cyprus Socialist Party (KSP), zum anderen Sener Levent und fünf weitere Kandidat*innen des Jasmine Movements. Dem Guardian gegenüber gab Levent an, mit seiner Kandidatur „die Besetzung“ des nördlichen Teils der Insel durch türkisches Militär in den Mittelpunkt der Diskussion rücken zu wollen. Was er fordert, ist nicht die Gründung eines Staates, den türkische und griechische Zypriot*innen gemeinsam neu gestalten, sondern das Weiterleben der Republik Zypern und das Eingliedern der nördlichen Regionen. Levent steht aktuell vor Gericht, weil er einen Cartoon veröffentlichte, auf dem eine griechische Statur auf Erdoğans Kopf uriniert. Pauline Adès-Mével, Leiterin des Regionalbereichs Europäische Union und Balkan bei Reporter ohne Grenzen, sprach sich daraufhin besorgt über den Druck, den Ankara auf türkisch-zypriotische Medienhäuser wie Afrika ausübt, aus.

Für Levent ist es nicht das erste Mal, dass er bei den Europawahlen kandidiert: 2014 war er aber erfolglos. Ein anderer türkisch-zypriotischer Politiker hingegen wird inzwischen als potenzieller Kandidat für den Einzug ins Brüsseler Parlament gehandelt: Niyazi Kızılyürek hat im Norden der Insel, der eine professionelle Europawahlkampagne bis dahin noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, auf Plakatwänden, in sozialen Netzwerken und in Zeitungen für sich geworben. Der Professor der im südlichen Teil Nikosias gelegenen University of Cyprus ist AKEL-Kandidat und zählt zu jenen, die sich anders als Levent für eine Wiedervereinigung der Insel in einer bizonalen und bikommunalen Föderation an der Stelle der jetzigen Republik Zypern aussprechen.

Scharfe Kritik erhält er dafür von der türkischen, regierungsfreundlichen Zeitung Daily Sabah: Diese wirft AKEL vor, mithilfe von Kızılyürek Unterstützung für die türkischen Zypriot*innen vorzutäuschen, ohne dabei wirklich an einer Lösung des Zypernkonflikts zu arbeiten. Als Vertreter der türkisch-zypriotischen Gemeinschaft sieht Kızılyürek sich selbst nicht, eher als Vertreter bestimmter Ideen wie eben der einer zypriotischen Föderation. Ein Wahlkampfprogramm zu formulieren, in dem der Zypernkonflikt nicht vorkommt, ist für Politiker*innen wie ihn undenkbar. Nichtsdestotrotz ist die positive Prognose, die ihm ausgestellt wird, bemerkenswert: Seit 1963 wurde in der Republik Zypern kein*e türkische*r Zypriot*in in ein Amt gewählt. Sollte Kızılyürek Erfolg haben, wäre sein Einzug ins Europäische Parlament eine Premiere und durchaus ein besonderer Moment in der Geschichte der Insel.

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