Europawahl: Die Europäische Perspektive

, von  Gesine Weber, Juuso Järviniemi, Louise Guillot, Xesc Mainzer Cardell

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Europawahl: Die Europäische Perspektive

Gestern haben Europäer*innen in 28 EU-Mitgliedstaaten ein neues Europäisches Parlament gewählt. Perspektiven auf das Wahlergebnis von den Redakteur*innen von treffpunkteuropa.de, Le Taurillon, The New Federalist und El Européista.

Juuso Järviniemi, The New Federalist: Auf dass unsere EU-Parlamentarier*innen standfest seien

Das erste Mal seit einem Vierteljahrhundert war mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten wählen. Langsam aber sicher entwickelt sich auch ein europäischer öffentlicher Raum: dieses Mal waren sich die Wähler*innen mehr als vielleicht je zuvor bewusst, was in den anderen Mitgliedstaaten derzeit passiert. Vor 2014 kannte niemand die Spitzenkandidat*innen, diesmal konnte die Öffentlichkeit zwei Duelle zwischen ihnen erleben. Die EU-Demokratie entwickelt sich langsam, aber sicher.

Wir wissen jetzt, welche Parlamentarier*innen die 751 Sitze des Europäischen Parlaments besetzen werden, wenn das Parlament im Juli seine Arbeit aufnehmen. Wir wissen, welche Parteien von den Wähler*innen belohnt und abgestraft wurden. Aber viel wichtiger ist, dass der Kampf um die wahre Bedeutung dieser Wahlen erst in den nächsten Wochen ausgetragen wird und morgen beginnt.

Am Dienstag werden die Staats-und Regierungschef*innen zu einer ersten Diskussion über die Top-Posten in der EU zusammenkommen, was auch die Kommissionspräsidentschaft betrifft. Nachdem an diesem Wochenende hunderte Millionen Wähler*innen ihre Stimmen abgegeben haben, ist es zynisch und abwegig, dass 28 Männer und Frauen darüber entscheiden, ob diese Wahlen auch eine Abstimmung darüber waren, wer die EU in den nächsten fünf Jahren anführen soll. Heute und morgen, und bis das Europäische Parlament darüber entschieden hat, wer Kommissionspräsident*in wird, müssen die Bürger*innen ihre direkt gewählten Vertreter*innen deutlich unterstützen.

Der historische Anstieg der Wahlbeteiligung bedeutet auch, dass das Parlament nun stärker ist als vorher. Möge es sich dem Druck nationaler Politiker*innen nicht beugen. Möge der*die nächste Kommissionspräsident*in eine*r der Kandidat*innen sein, die sich vor den Wahlen auf diesen Posten beworben haben, und nicht jemand, der unter dem Tisch hervorgezaubert wird, jetzt da die Wahlen vorbei sind.

Louise Guillot, Le Taurillon: Respekt für das Spitzenkandidat*innen-Prinzip ?

Die Zivilgesellschaft muss zufrieden sein mit einer Wahlbeteiligung, die in fast allen EU-Mitgliedstaaten gestiegen ist; Frankreich ist keine Ausnahme, die Wahlbeteiligung lag hier bei 50,97 Prozent. Eine höhere Wahlbeteiligung gab es zuletzt im Jahr 1994. Pro-europäische Kräfte können daher glücklich sein, dass die französischen Bürger*innen am Sonntag wählen gegangen sind, selbst wenn die rechtsextreme Partei Rassemblement National wie auch schon 2014 führt.

Auf europäischer Ebene besteht kein Zweifel daran, dass die Grünen herausragen und deutliche Fortschritte machen, vor allem in Deutschland und Irland. Selbst wenn die EVP, S&D und ALDE die absolute Mehrheit für eine Koalition hätten, haben wir jeden Grund zu glauben, dass die Grünen eine entscheidenden Rolle für die Wahl der nächsten Europäischen Kommission und ihres Präsidenten*ihrer Präsidentin spielen könnten, indem sie eine starke pro-europäische und progressive Koalition bestätigen.

Die Ergebnisse, die an diesem 27. Mai vor uns liegen, zeigen ein zersplittertes und stark fragmentiertes Europäisches Parlament, das eine neue Koalition bilden muss und neue Dynamiken für die nächsten fünf Jahre entwickeln, weil die EVP und die S&D nicht länger nur zu zweit eine Mehrheit bilden können. Daher ist es essentiell, dass diese neue Koalition progressiv und ambitioniert für die nächsten fünf Jahre an die Erwartungen der europäischen Bürger*innen herangeht, die mit ihrer Wahlentscheidung auf mehr Handeln im Bereich Klima und soziale Gerechtigkeit bestanden haben.

Letztendlich stehen wir vor der Frage, ob das Spitzenkandidat*innen-System respektiert wird. Manfred Weber hat betont, der legitime Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten zu sein, aber es ist möglich, dass der Europäische Rat sich anders entscheidet, besonders weil andere Fraktionen noch nicht zugestimmt haben, Manfred Weber die Kommissionspräsidentschaft übernehmen zu lassen.

Gesine Weber, treffpunkteuropa.de: Ein Weckruf für konkrete Politik im Europaparlament

Mit der höchsten Wahlbeteiligung seit 25 Jahren sind die europäischen Wähler*innen endlich aus ihrer Starre erwacht. Dass mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten in Europa nun endlich wieder zur Wahl gegangen sind, zeigt, dass sich etwas in Europa bewegt, und dass die Bürger*innen Europa nicht länger als geschenkt betrachten. Wahrscheinlich ist es nicht zuletzt diese hohe Wahlbeteiligung, die einen maßlosen Sieg der populistischen Kräfte verhindern konnte, und das ist sicherlich eine gute Nachricht nach diesem Wahltag.

Trotzdem dürfen wir uns nun nicht zu zwei vorschnellen Schlussfolgerungen hinreißen lassen. Erstens dürfen wir nicht dem Irrglauben verfallen, dass der Aufstieg populistischer Kräfte nach diesen Europawahlen der Vergangenheit angehöre. Vor dem Hintergrund, dass die Zahl euroskeptischer Mitglieder im Europaparlament deutlich angestiegen ist, ist es nun die Aufgabe der pro-europäischen Parlamentarier*innen, diesen die Stirn zu bieten und ihre Forderungen zu entzaubern. Besonders wichtig ist das mit Blick auf die besorgniserregenden Ergebnisse in Frankreich, wo das Rassemblement National (vormals Front National) stärkste Kraft wurde. Sicherlich sind die Europawahlen zu einem gewissen Teil auch immer ein Spiegel nationaler Politik, aber wenn ein Viertel der Bevölkerung die Vorteile der EU in so geringem Maße wahrnimmt, dass sie sich von Le Pens europafeindlichen Parolen verführen lassen, können nicht allein nationale Dynamiken als Erklärung für die hohe Unterstützung für rechtspopulistische Kräfte dienen. Das ist ein Weckruf für das Europaparlament, in der nächsten Legislaturperiode mehr konkrete Politik zu machen, die das Leben der Bürger*innen tatsächlich beeinflusst und zum Positiven verändert.

Zweitens darf uns die höhere Wahlbeteiligung nicht zu der Annahme führen, dass die Bürger*innen in Europa nun alle Europa von ganzem Herzen lieben und deshalb wählen gegangen sind, weil sie von leidenschaftlichen Wahlkampagnen mobilisiert worden sind. Tatsächlich hat der Wahlkampf 2019 gezeigt, wie sehr die Parteien in Europa auf der nationalen Schiene fahren und wie wenig sie in der Lage sind zu kommunizieren, wofür sie in Europa stehen. Um ehrlich zu sein, wäre es reine Illusion, in Verbindung mit den Wahlkämpfen von einem europäischen öffentlichen Raum zu sprechen, sodass hier noch viel Arbeit auf Europa zukommt.

Das interessanteste Ergebnis der Wahlen steht aber noch aus: die Bildung einer Koalition im Europäischen Parlament, die eine*n Spitzenkandidat*in zum*zur Kommissionspräsidenten*Kommissionspräsidentin wählt. Im Sinne des Pluralismus in Europa ist es nicht so schlecht, dass die Konservativen und Sozialdemokraten viele Sitze eingebüßt haben - die Liberalen und die Grünen werden dort neue Impulse ins Europaparlament bringen, wo europäisches Handeln mehr denn je gebraucht ist, beispielsweise im Bereich Umweltschutz oder Klimawandel. Wenn Manfred Weber (CSU/EVP) Kommissionspräsident werden will, wird er Zugeständnisse machen müssen - und vor allem deshalb, weil Weber kein Jean-Claude Juncker ist, der mit seiner Europabegeisterung pro-europäische Parlamentarier*innen aus allen Parteien überzeugen konnte, werden diese Zugeständnisse dazu beitragen, dass das Europaparlament nicht zu konservativ und für den*die durchschnittliche*n Betrachter*in noch langweiliger wird. Es bleibt zu hoffen, dass die Staats-und Regierungschefs im Europäischen Rat sich auch tatsächlich an das Spitzenkandidat*innen-Prinzip halten, auch wenn die Verhandlungen schwierig werden - tun sie es nicht, brechen sie ein Versprechen und zerschlagen die letzte Hoffnung der Europäer*innen auf ein Ende der Brüsseler Hinterzimmerpolitik.

Xesc Mainzer, El Europeísta: Der langsame Niedergang der Sozialdemokratie

Nachdem sich der Wirbel nach den Europawahlen gelegt hat, ist ein klarer Verlierer in Sicht: die Sozialdemokraten. Auch wenn sie nicht die einzige Fraktion sind, die herbe Verlust einfährt (man denke an die Europäische Volkspartei, EVP), folgt die Sozialdemokratie in ganz Europa einem gefährlichen Weg.

“Das ist nicht überall der Fall”, mag man jetzt denken. Tatsächlich gibt es Ausnahmen wie Spanien, wo die Sozialisten des Premierminister Sanchez die Europawahlen das erste Mal seit 2004 gewonnen haben, oder die Niederlande, wo Franz Timmermans eine totgesagte PvdA (Partij van de Arbeid) zum Sieg geführt hat. Trotzdem kann man nicht verleugnen, dass diese einst in Westeuropa dominierende Politik einen scheinbar unaufhaltbaren Weg in die Irrelevanz geht.

In Deutschland, der Wiege der modernen Sozialdemokratie, ist die SPD noch hinter die Grünen zurückgefallen und liegt mit nur wenigen Sitzen mehr als die rechtspopulistische AfD auf dem dritten Platz. In Frankreich, dem Mitgliedstaat mit der stärksten Sozialdemokratie unter den großen Mitgliedstaaten über Jahrzehnte, ist die Parti socialiste fast aus dem Europaparlament herausgeflogen, als sechsstärkste Kraft nur knapp über der Fünfprozenthürde. Ganz zu schweigen von Großbritannien, wo der unklare Standpunkt der Labour Partei sie nur knapp vor dem vierten Platz verschont hat.

Eine Mischung aus soziodemographischen Veränderungen, einer Wendung nach rechts und schlechter strategischer Entscheidungen haben die Sozialdemokraten in die Situation gebracht, wo sie heute sind. Werden sie es schaffen, aus dieser Wahl zu lernen, und ihren Weg heraus aus der Irrelevanz finden?

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