Früh übt sich: Vestagers Anfänge auf der politischen Bühne
Margrethe Vestager (geboren in Glostrup, Dänemark, 1968), Tochter lutherischer Geistlicher, studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Kopenhagen und trat schon in sehr jungen Jahren der sozialliberalen Partei (Radikale Venstre, RV, Renew Europe) bei. Im Alter von 30 Jahren wurde sie Ministerin für Wirtschaft und kirchliche Angelegenheiten in der Mitte-Links-Koalitionsregierung von Poul Nyrup Rasmussen. 2007 übernahm sie die Führung ihrer Partei im dänischen Parlament, führte sie 2011 in die Parlamentswahlen und verdoppelte den Sitzanteil der Partei.
Nach der Bildung der Koalitionsregierung von Helle Thorning-Schmidt wurde Vestager zur Ministerin für Wirtschaft und Inneres ernannt. Sie spielte eine entscheidende Rolle bei der Beaufsichtigung der starken Ausgabenkürzungen der Regierung für das dänische Sozialsystem. In der Tat, schreibt Bernardo de Miguel für El País, sei Vestager weithin als ebenso mächtig anerkannt gewesen wie Thorning-Schmidt selbst, wenn nicht sogar als noch mächtiger. Es gibt zudem Gerüchte, dass sie das berühmte dänische Politdrama Borgen inspiriert hätte – eine Behauptung, fügt de Miguel hinzu, die Vestager weder bestätigt noch dementiert habe.
Ihre Amtszeit als Wirtschaftsministerin machte sie einem breiteren europäischen Publikum bekannt: Als ECOFIN-Vorsitzende im Jahr 2012, während der dänischen EU-Ratspräsidentschaft, war sie maßgeblich daran beteiligt die Gesetzgebung zur Rettung des Finanz- und Bankensektors voranzutreiben. Die rücksichtslose Anwendung ihrer liberalen Agenda gewann die Bewunderung vieler europäischer Spitzenpolitiker*innen (wie des ehemaligen deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble und des damaligen luxemburgischen Premierministers Jean-Claude Juncker), setzte sie aber auch der heftigen Kritik von Anti-Austerity-Parteien auf dem ganzen Kontinent aus.
Amtszeit in der Juncker-Kommission: Erst der Anfang?
Bei der Bildung der Juncker-Kommission im Jahr 2014 erhielt Vestager das mächtige Ressort Wettbewerb und übernahm damit das Amt von Joaquín Almunia. Ihre erste Amtszeit in der Europäischen Kommission wurde allgemein als erfolgreich angesehen. Ihr Kampf gegen Technikgiganten wie Google, Facebook oder Apple machte Vestager bald zu einer beliebten Figur in Brüssel. Ihr Stil unterschied sich merklich von Almunias Laissez-faire-Ansatz: Sie stellte die regulatorische Willkür von Big Tech sehr früh in Frage und leistete Pionierarbeit bei der Anwendung staatlicher Beihilferegeln, um die Steuervermeidung besagter Firmen anzufechten. Doch die Natur ihrer Rolle - eine Rolle, die lange, trockene Rechtsstreitigkeiten gegen Firmen beinhaltet, die Armeen von Anwält*innen anheuern - bedeutete, dass in fünf Jahren nur wenig erreicht werden konnte: eine zweite Amtszeit, so behauptete sie selbst, wäre notwendig, um „die Dinge zu Ende zu bringen“.
Margrethe Vestager war eine der führenden Politiker*innen von Renew Europe bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 und galt weithin als Macrons bevorzugte Kandidatin für die Kommissionspräsidentschaft. Ihre eigene Partei weigerte sich, das System der Spitzenkandidat*innen, das Vestager selbst 2018 heftig kritisiert hatte, vollständig zu übernehmen. Dadurch erhielt sie zwar keine Chance den Spitzenposten zu übernehmen, durfte aber die Abteilung Wettbewerb behalten. Sie wurde eine der drei mächtigen Vizepräsident*innen von Ursula von der Leyen und bekam die Verantwortung für das Ressort „Ein Europa für das digitale Zeitalter“ übertragen.
Die Jahre an der Spitze des Kampfes der Kommission gegen Big Tech haben Vestagers wichtigste politischen Trümpfe zum Vorschein gebracht: ihre feste Bekenntnis zu einer Reihe von politischen Grundsätzen - ein Liberalismus, der im Laufe der Zeit durch einen Hauch von Sozialdemokratie und Marktregulierung abgemildert wurde - und ihre Weigerung, sich der Feindseligkeit anderer politischer Akteure zu beugen. Dem privaten Sektor, Mitgliedstaaten wie Frankreich und Deutschland, die ihre Weigerung die umstrittene Fusion zwischen Alstom und Siemens zu genehmigen, kritisierten, oder Donald Trump selbst, der sie als „Steuerfrau“ bezeichnete und ihr vorwarf die USA „wirklich zu hassen“, bot sie die Stirn.
Vestagers Mission: Kampf um die Regulierung von Apple und Co.
Vielleicht noch wichtiger ist, dass Vestagers Arbeit durch eine klare politische Vision untermauert wurde. In einem Interview mit The Guardian aus dem Jahr 2018 warnte sie vor der Gefahr der sozialen Medien - ihrer Macht, die Demokratie zu „deaktivieren“, wobei wir uns „in unsere eigene private Blase und unseren privaten Feed von Dingen zurückziehen, die wir gerne hören würden“ - und verteidigte die Bedeutung des Wettbewerbsrechts und der Regulierung staatlicher Beihilfen, um sicherzustellen, dass die Märkte gegenüber den Verbraucher*innen offen, fair und demokratisch bleiben. Es ist diese Vision, die ihre jüngsten Fälle vor dem Gericht der EU angetrieben hat: ihr Sieg in der Rechtssache Luxemburg gegen die Kommission, in der es um staatliche Beihilfen für Fiat ging, ihre Niederlage in der Rechtssache Niederlande gegen die Kommission, einem Fall, in den Starbucks involviert war, sowie im jüngsten Streit Apple gegen die Kommission.
Ein großer Rückschlag für das politische und ordnungspolitische Projekt von Vestager war die Niederlage der Kommission in dem vielbeachteten Fall Apple gegen die Kommission. Irland wurde vorgeworfen, mit der Versäumnis der Besteuerung der weltweiten Gewinne von Apple eine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 107 AEUV geleistet zu haben. Das Gericht wies den Vorwurf jedoch zurück. Die Geldbuße für Apple in Höhe von 13 Milliarden Euro war die höchste, die die Kommission je verhängt hatte, und wurde weithin als entscheidender Präzedenzfall für die Regulierung digitaler Plattformen angesehen. In der Tat, schreibt Nils Pratley für The Guardian, könne die Niederlage der Kommission ein radikales Überdenken ihres rechtlichen Ansatzes in Bezug auf die Steuerhinterziehung von Big Tech erfordern. Angesichts der kürzlichen Wahl des Iren Pascal Donohoe zum Präsidenten der Eurogruppe, dessen Regierung sich an der Anfechtung der Apple-Entscheidung der Kommission beteiligte, könnte dies künftig sogar noch notwendiger werden.
Dennoch sollte das Apple-Urteil, gegen das noch Berufung vor dem EuGH eingelegt werden kann, nicht die entscheidende Arbeit von Vestager in den vergangenen Jahren überschatten: ihre Klage gegen Google wegen Missbrauchs seiner marktbeherrschenden Stellung, ihr Erfolg gegen Facebook wegen Irreführung der Regulierungsbehörden über die Übernahme von WhatsApp oder ihre Untersuchungen über die Nutzung von Android-Mobilgeräten zur Stärkung der Dominanz der mobilen Apps von Google gegenüber denen von Konkurrenten.
Die Kartellbrecherin der reichen Welt?
Angesichts des immer härter werdenden Kampfes der Kommission gegen Unternehmen wie Apple und Google, sind Vestagers Einschätzungen bezüglich der von den Plattformen ausgehenden Risiken und ihre Entschlossenheit, die notwendigen Regulierungen durchzusetzen, wohl wichtiger denn je: Der kürzliche Ausstieg der USA aus den OECD-Gesprächen zur digitalen Besteuerung sowie die zunehmende Bedeutung des Wettbewerbsrechts und der digitalen Wirtschaft in China und Indien haben gezeigt, dass die EU sich als normative Supermacht in den Bereichen Wettbewerbsrecht, digitale Besteuerung oder Recht auf Privatsphäre etablieren muss, um sicherzustellen, dass Unternehmen auch künftig für ihre Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden können.
Europas bekanntestes Gesicht in diesem Kampf wird Margrethe Vestager sein: die Tochter zweier lutherischer Geistlicher aus der Kleinstadt Glostrup, die, in den Worten von The Economist, zur „mächtigsten Kartellbrecherin der reichen Welt“ aufgestiegen ist.
Kommentare verfolgen: |