Flüchtlingskrise als politisches Sprungbrett? Der Fall Türkei

, von  Gesine Weber

Flüchtlingskrise als politisches Sprungbrett? Der Fall Türkei
Im Rahmen der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist bisher ausschließlich das Kapitel Wissenschaft abgeschlossen, zu groß sind die Differenzen in anderen zentralen Politikfeldern. © European External Action Service / Flickr/ CC BY-NC 2.0-Lizenz

Am vergangenen Freitag haben die europäischen Staats-und Regierungschefs beim EU-Gipfeltreffen mit dem türkischen Premierminister Ahmet Davutoğlu schließlich einen gemeinsamen Plan für das Vorgehen in der Flüchtlingskrise erarbeitet. Das Abkommen ist umfassend und beinhaltet unter anderem Beitrittsverhandlungen mit der Türkei für den EU-Beitritt.

Dass ein europäischer Lösungsansatz für die Flüchtlingskrise ohne die Kooperation der Türkei schwierig bis unmöglich werden würde, stand in Brüssel außer Frage. Genauso war den europäischen Partnern klar, dass eine solche Kooperation einen Preis haben würde; lange wurde deshalb verhandelt, am Ende des EU-Gipfels steht der Türkei-Deal, der nicht nur eine Wende in der Flüchtlingspolitik, sondern auch in den europäisch-türkischen Beziehungen bedeutet. Die Vereinbarungen tragen nicht nur eine deutliche Handschrift der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, sondern vor allem der türkischen Verhandlungspartner. Das neue Flüchtlingsabkommen sieht vor, dass Rückführungen irregulär nach Griechenland eingereister Flüchtlinge in die Türkei ab Anfang April stattfinden können, wobei jedoch weiterhin eine Einzelfallprüfung der Asylanträge erfolgt. Darüber hinaus soll für jeden rückgeführten syrischen Flüchtling ein anderer über das legale Verfahren in die EU gelangen. Außerdem soll Griechenland mit entsprechenden Ressourcen für das neue Verfahren ausgestattet werden und die Bereitstellung der bereits zugesagten drei Milliarden Euro für syrische Flüchtlinge in der Türkei schneller erfolgen. Im Gegenzug für die Kooperation erhält die Türkei unter bestimmten Bedingungen Visafreiheit, außerdem werden die Beitrittsverhandlungen fortgesetzt.

Beitrittsverhandlungen: ein symbolischer Akt?

Vor allem Zypern hatte sich lange gegen die Perspektive neuer Beitrittsverhandlungen gesperrt, da es noch immer keine politische Lösung für die Wiedervereinigung des griechischen und türkischen Teils der Insel gibt. Allerdings musste auch der türkische Premierminister Zugeständnisse machen: Die Beitrittsverhandlungen fallen wesentlich reduzierter aus, als es von ihm ursprünglich gefordert worden war. Bis ein Land der Europäischen Union beitreten kann, werden im Rahmen eines Verhandlungsprozesses alle 35 Kapitel des sogenannten Acquis („gemeinschaftlicher Besitzstand“), das heißt alle für die Mitgliedsstaaten verbindlichen EU-Rechtsakte, geöffnet und überprüft, inwiefern das Kandidatenland mit den daraus resultierenden Anforderungen übereinstimmt bzw. diese umsetzen kann. Ist dies problemlos möglich, wird das Kapitel geschlossen; sind alle Kapitel geschlossen, wird ein Beitrittsvertrag erarbeitet. Im Rahmen der Verhandlungen mit der Türkei ist bisher ausschließlich das Kapitel Wissenschaft abgeschlossen, zu groß sind die Differenzen in anderen zentralen Politikfeldern. Mit den Verhandlungen des aktuelles EU-Gipfels hat die Türkei nun die Zusage für Verhandlungen im Rahmen von Kapitel 33, Haushaltspolitik, erhalten; bereits auf einem anderen Treffen, auch im Rahmen der Flüchtlingspolitik, hatte die EU Verhandlungen zu Kapitel 17, Haushalts-und Währungspolitik, angekündigt. Vor allem in der Türkei ist die Freude über die Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen groß, da der EU-Beitritt seit Langem ein wichtiges Ziel der Türkei ist. Allerdings ist auffällig, dass gerade solche Kapitel geöffnet werden, die ein geringes Konfliktpotenzial zwischen den beiden Verhandlungspartnern darstellen, da die wirtschaftlichen Systeme sich recht ähnlich sind. Weder geht die EU den Schritt, direkt eine größere Anzahl von Kapiteln zu öffnen, noch wagt man sich an Kapitel, in denen die Verhandlungen schwierig bis aussichtslos erscheinen, wie beispielsweise in den Bereichen Justiz, Grundrechte, Institutionen oder EU-Außenpolitik. Die EU hat sich also offensichtlich für eine Politik der kleinen Schritte entschieden: Schritte, die hauptsächlich symbolischer Art sind, solange keine politische Lösung für Zypern gefunden ist.

Näher an Europa – und trotzdem noch weit entfernt

„Die Türkei hat sich europäischer verhalten als so manches andere EU-Land“, sagte Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU). Dass die Türkei sich im Hinblick auf die Probleme an der Grenze kooperativer zeigt als beispielsweise Ungarn unter Victor Orbán, steht außer Frage; die aktuelle Krise hat die Abhängigkeit der EU von der Türkei zweifellos vergrößert, und umgekehrt. Die Leistungen der Türkei an der Grenze zu Syrien spielen eine zentrale Rolle zur Bewältigung des humanitären Desasters, welches der syrische Bürgerkrieg und die Ausbreitung des „Islamischen Staates“ (IS) in Irak ausgelöst haben. Trotzdem: Europäisch ist die Türkei noch lange nicht, und abgesehen von symbolischen Zugeständnissen ist sie davon weit entfernt. Neben den Anforderungen des Acquis stellen sich für den Beitritt immer wieder dieselben Fragen: Beitreten können der EU nur europäische Staaten – aber ist die Türkei ein europäischer Staat, wo das Staatsgebiet zu nur 3% auf dem europäischen Kontinent liegt? Ein weiteres Kriterium für den EU-Beitritt ist, dass Staaten die Werte der EU teilen müssen, die sich unter anderem in Artikel 2 des Vertrags von Lissabon finden. Dazu zählen beispielsweise Demokratie, Menschenrechte, aber auch der Respekt für Minderheiten; dies scheint kaum vereinbar mit der Politik von Präsident Erdogan, der Journalisten oder das Verfassungsgericht bedroht, und der aktuell keinerlei Interesse an einer friedlichen Lösung der Kurdenfrage zeigt.

Andererseits steckt jedoch gerade in den Beitrittsverhandlungen ein großes Reformpotenzial: Vor der Öffnung jedes Kapitels überprüft die Kommission gemeinsam mit EU-Experten, wie gut der Beitrittskandidat auf potenzielle Verhandlungen vorbereitet ist. Gibt es hier große Defizite, kann die EU Zielvorgaben setzen, die zunächst erreicht werden müssen, bevor die Verhandlungen beginnen können. Ebenso kann die EU während der Verhandlungen im Rahmen der einzelnen Kapitel Zielvorgaben setzen, die zum Schließen der Kapitel erreicht werden müssen. Demnach sind die Einflussmöglichkeiten der EU nie größer als während der Beitrittsverhandlungen. Dass dieser detaillierte Prozess vor der Osterweiterung der EU entwickelt wurde, hatte das Ziel, den Transitionsprozess der Mitgliedsstaaten der ehemaligen Sowjetunion besser begleiten und vorantreiben zu können; Staaten wie Tschechien oder Slowenien sind Beispiele für den Erfolg dieses Prozesses. Verhandlungen mit der Türkei hätten also Potenzial, von dem beide Seiten langfristig profitieren könnten – wenn sie denn bereit wären, die entsprechenden Zugeständnisse zu machen. Insbesondere von der Türkei würde ein Beitritt ein hohes Maß an Reformbereitschaft erfordern, von dem man heute noch weit entfernt zu sein scheint.

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