Geschichte: Ein Geschöpf der Erinnerungen oder der Träume?

, von  übersetzt von Jagoda Pokryszka, Valter Cassar

Geschichte: Ein Geschöpf der Erinnerungen oder der Träume?

Dieser Artikel wurde im Rahmen des Essaywettbewerbs des JEF Euromedia Seminars 2018 verfasst. Im Wettbewerb hat er sich gegen neun Mitbewerber durchsetzen können.

Wie die Geschichte im Laufe der Zeit betrachtet wurde

Wenn man sich das Mittelalter vorstellt, fällt einem zuerst ein Bild der göttlichen Ordnung ein, die sich durch seine strenge Gesetzgebung, einen festgelegten Sittenkodex und eine Diktatur der einzigen Wahrheit stark von der heutigen liberalen Demokratie unterscheidet und bewerte dieses System unmittelbar als unterdrückend. Andererseits wird es (manchmal nostalgisch) anerkannt, weil der Mensch damals ein Teil der göttlichen Kreation war, die ein höheres Ziel und die Bedeutung der eigenen Existenz versprach. Dann sind die Persönlichkeiten wie Galileo, Descartes und Newton aufgetaucht, die entweder als zweiter Prometheus oder Verführer des Baums der Erkenntnis betrachtet wurden. Seit dieser irreversiblen Wende in der Geschichte hat die Menschheit allmählich die Werte der Aufklärung in die Praxis umgesetzt.

Ein Mensch – ein selbstständiges Lebewesen – brauchte keine Führung mehr, er gestaltete seine Zukunft selbst aufgrund der ihm bekannten Tatsachen und des Verstands. Diese Ethosrevolution schritt zusammen mit der technologischen Revolution durch die rapide Entstehung neuer Arbeitsplätze, Städte und des effizienten Transports fort. Dadurch ist die beispiellose Kreation des kosmopolitischen Menschen möglich geworden. Er hat die formalen Rollen aufgenommen und sich mit der eigenen Identität beschäftigt, was im Gegensatz zu den alten Volkswerten und von dem Soziologen Ferdinand Tönnies genannten Gemeinschaft steht.

Dennoch ist der moderne Mensch nicht vollkommen in der Gegenwart eingetaucht, sondern hat ein Verständnis für die Geschichte, was sich in den Zeiten der Not offenbart: die industrielle Ära hat doch dem Aufstieg von Romantik zuschauen müssen. Die Dichtungen von Adam Mickiewicz, in denen er die Rückkehr zur polnisch-litauischen Union besungen hat oder die Opern von Richard Wagner, die die Ritterlichkeit der alten nordischen Helden beschreiben, haben großes Ansehen genossen. In den Zeiten, in denen das Mystische aufgegeben wird, hat Geschichte eine besondere Rolle: einerseits beruht sie auf den Tatsachen, aber ist genug verformbar, um auf ihrer Basis Mythen und Legenden zu schaffen. Sie widerstehen den logischen Analysen, weil historische Quellen verschiedene Interpretationen haben können.

Der Wandel von der von oben aufgezwungenen Auslegung des Wissens zur Anerkennung einer Einzelperson hat zahlreiche Freiheiten mitgebracht, die die Verfolgung der eigenen Ziele und Meinungsfreiheit ermöglicht haben. Das wiederum hat zusammen mit der Entwicklung der Presse zum Pluralismus als Grundwert der modernen Gesellschaft geführt. Jedoch hat die Menschheit den Punkt der Überflutung mit den Informationen erreicht. Die Vielfalt der Meinungen wird nicht immer wahrgenommen.

Leute haben schnell die zu große Menge der sie erreichenden Fakten bemerkt. Desinteressiert und entmutigt haben sie aufgehört, sich mit der Wahrheit zu beschäftigen. Im Endeffekt muss die Gesellschaft nun von den Technokraten geführt werden, die über ein spezialisiertes Wissen verfügen. Es verbreitet sich die Ansicht, dass man heutzutage genauso viel Kontakt mit den Regierenden hat so wie im Mittelalter. Toleranz anderen Weltanschauungen gegenüber wird hingegen als Apathie, nach der Wahrheit nicht suchen zu wollen, verstanden. Es scheint einfach zwecklos, die Erkennung der Wahrheit anzustreben, denn man geht schon zu Beginn davon aus, dass es so viele Interpretationen einer Sache gibt wie TV-Sender. Die Postmoderne hat das Verlangen nach der Wahrheit mit der Sehnsucht nach den Mythen ersetzt, die sich entweder auf die Vergangenheit beziehen oder in die Zukunft projizieren.

Mythen der Zukunft

In der westlichen Kultur hat sich die Überzeugung etabliert, dass Europa und die USA in solchem Ausmaß miteinander verbunden sind, dass sie sich einander wiederspiegeln, sie sind eine Einheit. Das Donald-Trump-Phänomen hat diese Vision gestört. Es ist die Verkörperung der Sehnsucht nach der Sonderbarkeit und Besonderheit der Geschichte des eigenen Volks und der Zuwendung Richtung Vergangenheit. Die Medien, die eine andere Narration vorschlagen, wurden sofort als „Fake News“ abgestempelt. Man wollte dadurch die Menschen überzeugen, dass Trumps Twitter-Konto die einzige glaubwürdige Informationsquelle sei. Der erste Schritt dieses Prozesses war also der Ausschluss der Vielfalt, zunächst wird die historische Schilderung hervorgehoben.

Da sich kein einheitlicher Katalog der wiederzubelebenden Werte fertigstellen ließ, wurden die alten Ressentiments unter dem vagen Slogan „Make America Great Again“ zusammengefasst. Eigentlich hat Amerika nie ein goldenes Zeitalter erlebt, deswegen war diese Sehnsucht abstrakt und verkörperte eher die Unzufriedenheit mit den früheren Regierungen, die die Träume der Gesellschaft nicht erfüllen konnten. Amerikanern sei es früher besser gegangen, die alte Pracht müsse zurückkommen.

Blick in die Vergangenheit

Manchmal wird der historische Diskurs zur Anwendung gebracht nicht um die bessere Zukunft darzustellen, sondern die Vergangenheit zu verschönern. Die Ereignisse, die als bedrohlich für die heutige Gesellschaft betrachtet werden, werden bloß überarbeitet. Das letzte derartige Ereignis ist in Polen passiert, wo die Verwendung des Ausdrucks „polnische Todeslager“ verboten wurde. Die darum entstandene Debatte um die Beteiligung Polen am Holocaust ist unschlüssig und zeigt, wie unterschiedlich die Menschen ihre eigene Identität aufbauen können, wenn ein einheitliches Model fehlt. Der Fakt, dass ein Teil der polnischen Bevölkerung mit Nazis kollaboriert hat, während der andere Widerstand geleistet und das mit dem eigenen Leben bezahlt hat. Zu dieser rohen Information kann man aber eine eigene Interpretation schreiben.

Die Kontroverse ist entstanden, weil es in Polen keine zentrale kulturelle Autorität gibt, die definieren würde, wie sich Polen kollektiv identifizieren sollten. Die Menschen begründen ihre Angehörigkeit zu einem Volk mit ihrer Abstammung, Staatsangehörigkeit, Sprache, Religion, Wohnsitzes oder sogar durch Ablehnung ihrer Nationalität. In der postmodernen Welt ist es schwer, etwas Gemeinsames zwischen den Einzelnen zu finden, deswegen gibt es so viele widersprüchliche Narrative auf einmal. Wenn man zusätzlich die Ansichten der anderen über das eigene Land in Betracht zieht, ist das nicht mehr die Meinung „der Ausländer“, sondern ein relevanter Beitrag der internationalen Gesellschaft, der den Respekt für das Land ausdrücken mag.

Revision der Menschheit, nicht der Geschichte

Die von der Regierung verordneten Verbote oder die Überarbeitung der Geschichte sind eine öffentliche Bekanntmachung, dass menschlicher Verstand und die Fähigkeit der objektiven Überprüfung des Sachverhalts an ihre Grenzen gestoßen sind. Wir müssen uns bewusst machen, dass wir bald zwischen dem freien Informationsfluss – mit allen seinen „alternative facts“ oder einer Autorität, die entscheiden würde, was richtig ist, wählen müssen.

Es wäre die höchste Zeit, hinzunehmen, dass der Kampf um die Objektivität die Erfindungen in Physik oder Technologie ermöglicht, aber wenn es zur Erklärung der menschlichen Absichten kommt, sind wir genauso hilflos wie der klassische Sisiphos. Wir sind in der Hyperrealiät des Informationsüberflusses verloren, wodurch die Unparteilichkeit verschwunden ist und die Einschätzung der Wahrhaftigkeit stets von neuem beginnt. Auf diesem Entwicklungsniveau müssen wir wieder die Grenzen der Vernünftigkeit bezweifeln und sie nicht als Garantie der Freiheit einfach annehmen. Sollten wir tatsächlich die Geschöpfe der Aufklärung sein, sollten wir uns an den mythologischen Teil von uns selber wenden, der niemals gestorben ist. Ansonsten werden wir uns nur selbst betrügen.

Dieser Artikel wurde ursprünglich im Rahmen unseres Essaywettbewerbs veröffentlicht und hat der ersten Platz erreicht.

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