Das Norwegische Modell
Als Vorbild für viele Brexit-Befürworter gilt das Verhältnis zwischen der EU und Norwegen. Norwegen ist Mitglied der Europäischen Freihandelszone (EFTA) und im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Der Zugang zum Europäischen Binnenmarkt bleibt somit erhalten, wobei Norwegen die Freiheit von Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr größtenteils akzeptiert. Individuelle Freihandelsabkommen sind möglich, die bestehenden EU-Abkommen mit anderen Staaten finden jedoch nur auf EU-Mitgliedsländer Anwendung. Die vertiefte politische Integration und Zusammenarbeit der EU-Staaten in Bereichen wie der Fischerei oder der Zollunion entfällt im Norwegischen Modell. Dies kommt Großbritanniens Wunsch nach intensiver wirtschaftlicher Kooperation ohne Teilhabe an einer politischen Union zumindest ein Stück näher. Allerdings müsste Großbritannien wie auch Norwegen weiterhin in den EU-Haushalt einzahlen und wäre an EU-Normen hinsichtlich des Binnenmarkts gebunden - ohne selbst die Weiterentwicklung des EU-Regelwerks mitzugestalten.
Das Schweizer Modell
Das Schweizer Szenario umfasst eine EFTA-Mitgliedschaft, sowie parallel abgeschlossene bilaterale Abkommen, die den Zugang zum Binnenmarkt regeln. Dies ermöglicht flexiblere Lösungen verglichen mit einer EWR-Mitgliedschaft, umfasst im Gegenzug aber nicht alle Bereiche des Binnenmarktes. Eine Beteiligung am EU-Haushalt ist ebenfalls vorgesehen. Der Aushandlungsprozess der bilateralen Abkommen ist sowohl komplex als auch langwierig und sorgt für eine verlängerte Phase wirtschaftlicher und politischer Unsicherheit.
Das Türkische Modell
Bei einer Zollunion nach türkischem Vorbild werden interne Zolltarife aufgehoben. Extern muss sich der Staat jedoch an den EU-Zolltarif gegenüber Drittländern halten (Art. 28 AEUV). Eine Beteiligung am EU-Haushalt entfällt. Höchstwahrscheinlich fallen zentrale Bereiche, wie Dienstleistungen, jedoch nicht unter die Zollfreiheit. Die von diesem Modell vorgesehene Übernahme der Außenhandelspolitik der EU ohne Mitspracherechte würde Großbritanniens Anspruch, wirtschaftlich autonom und flexibel zu agieren, nicht gerecht werden.
Das WTO-Szenario
Dieses Szenario greift, wenn zwei Jahre nach Beginn des Austrittsprozesses, gemäß Art. 50 EUV, keine Einigung erreicht wird. Im Rahmen der WTO-Mitgliedschaft unterliegen die britischen Handelsbeziehungen mit der EU fortan dem Prinzip der Meistbegünstigung (Art. I GATT). Vorteilhaft wäre hier Großbritanniens Unabhängigkeit von der EU-Handelspolitik bei Handelsabkommen mit anderen Staaten, wie beispielsweise China. Nachteilig wäre der eingeschränkte Zugang zum EU-Binnenmarkt mit verstärkten tarifären und nicht-tarifären Handelshemmnissen.
Ein passgenaues Freihandelsabkommen ist wahrscheinlich
Das Norwegische Szenario würde der britischen Wirtschaft wohl am wenigsten schaden. Bewegt sich Großbritannien zukünftig im Rahmen der bestehenden Modelle (Norwegen, Schweiz, Türkei), bliebe es jedoch weiterhin eng an das EU-Regelwerk gebunden, ohne signifikanten Einfluss auf EU-Entscheidungen nehmen zu können. Dies lässt alle drei Modelle aus britischer Sicht wenig attraktiv erscheinen, zumal die Ablehnung der Regeln aus Brüssel ein zentrales Wahlkampfargument der erfolgreichen Leave-Kampagne war.
Nicht nur im Hinblick auf Handelsbeziehungen, sondern auch in weiteren Bereichen wie der Immigrationspolitik muss Großbritannien seinen Platz im politischen Gefüge neu definieren. Ein maßgeschneidertes bilaterales Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Großbritannien ist derzeit die wahrscheinlichste Option.
Großbritannien hat sich in eine prekäre Lage manövriert
Entgegen der Forderungen von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, den Austritt schnellstmöglich in die Wege zu leiten, hat sich Großbritannien bisher jedoch weder auf ein Datum, noch auf einen konkreten Ausstiegsplan festgelegt. Die tatsächliche Ausgestaltung eines Folgeabkommens bleibt vorerst ungewiss.
Das Brexit-Votum hat Großbritannien innen- und außenpolitisch in eine prekäre Lage manövriert. Die politische Führung des Landes muss neu aufgestellt werden, die Märkte sind alarmiert. Schottland bekennt sich leidenschaftlich zur EU und zieht ein zweites Unabhänigkeitsreferendum in Betracht, während Brexit-Verfechter wie Boris Johnson und Nigel Farage den Rückzug antreten.
Das Brexit-Votum ist eine Zäsur - für Großbritannien und die EU
Obwohl die Europäische Union in Folgeverhandlungen mit Großbritannien mehr Verhandlungsmacht besitzt, steht auch für die EU selbst viel auf dem Spiel: Die Angst vor einem Domino-Effekt der Desintegration erhöht den Druck auf die Union. Das Brexit-Votum stellt eine Zäsur dar - sowohl für Großbritannien, als auch für die Europäische Union. Fest steht jedoch: Beide bleiben relevante Akteure füreinander, ein radikaler Kooperationsabbruch ist unwahrscheinlich. Britisches „cherry-picking“ mittels Abkommen, die Großbritannien einen vollständigen Binnenmarktzugang sichern und es gleichzeitig von jeglichen unionspolitischen Pflichten entbinden, lehnt die Europäische Union jedoch ab.
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