Interview mit Florian Siekmann, Sprecher für Europa- und Queerpolitik der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bayerischen Landtag

„Handel an Werte koppeln“

Was Europapolitik in Bayern bedeutet und wie Europa ein Versprechen für eine gute Zukunft sein kann

, von  Henri Oberpaur

„Handel an Werte koppeln“
Foto: zur Verfügung gestellt von Florian Siekmann, MdL

Florian Siekmann ist mit 27 Jahren jüngstes Mitglied des bayerischen Landtags und Sprecher für Europapolitik und Queerpolitik der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Im Gespräch mit treffpunkteuropa.de spricht er über die Bedeutung von jungen Menschen in der Politik und darüber, wie Europa und Landespolitik zusammenhängen.

Henri Oberpaur : Herr Siekmann, 2018 wurden Sie für die Grüne Jugend in den Landtag gewählt und sind aktuell mit 27 Jahren jüngstes Mitglied des bayerischen Landtags. Wieso ist die Präsenz von jungen Menschen in der Politik so wichtig?

Florian Siekmann: Als ich damals angetreten bin, ging es darum, einer Generation im Parlament eine Stimme zu geben, die bis dahin kaum eine hatte. Ich bin ja nicht allein, wir sind mit einer ganzen Reihe junger Abgeordneter eingezogen und bringen einen anderen Blickwinkel ein. In Bezug auf Europa zum Beispiel: Da ist für uns ganz vieles selbstverständlich geworden, was sich in den letzten 50 Jahren verändert hat. Ich bin aufgewachsen ohne Grenzen, ich bin aufgewachsen mit ganz selbstverständlichen Austauschmöglichkeiten, ich bin aufgewachsen mit Erasmus, ich bin aufgewachsen mit ganz viel und nehme davon ganz viel auch als selbstverständlich. Aber auf der anderen Seite bin ich vielleicht auch deshalb bereit, viel davon besonders zu verteidigen.

Was hat sie denn motiviert in die Politik zu gehen?

In die Politik gegangen bin ich eigentlich, weil ich das Gefühl hatte, dass mir ehrenamtliches Engagement nicht mehr ausreicht. Ich war in der Studierendenvertretung aktiv, habe wahnsinnig viel dafür gemacht, dass Kommiliton*innen bessere Studienbedingungen hatten, ich war in Vereinsvorständen und habe mich da zum Beispiel um naturwissenschaftliche Schülerförderung gekümmert. Und dann hatte ich ein Schlüsselerlebnis: Es ging um die Semesterticket-Verhandlungen in München und da habe ich plötzlich gemerkt, dass man mit ehrenamtlichem Engagement allein ab einem gewissen Punkt nicht weiterkommt. Wir haben die Unterstützung der Politik gebraucht, wir haben Geld gebraucht, um das Semesterticket weiterlaufen lassen zu können und wir haben es wirklich nur mit ganz viel Arbeitsaufwand am Ende geschafft, dass es geblieben ist. Ich bin aus diesen Verhandlungen raus und dachte mir: ”Es kann eigentlich nicht sein, dass man auf so viel Widerstand trifft, wenn junge Menschen so ein gutes Konzept haben, viele - also im Fall von München hunderttausend Studierende - umweltfreundlich, platzsparend in der Großstadt zu transportieren. Da muss der politische Rahmen sich ändern und das kann man nur im Parlament.

Jetzt sind sie Berufspolitiker - Wie tragen sie diese Werte und Überzeugungen nun in den Landtag?

Ich versuche, die Bodenhaftung oder vielleicht auch einfach den Kontakt natürlich erstmal zu meiner Generation nicht zu verlieren. Also gehe ich ganz bewusst auch noch auf Studi-Partys (lacht), aber es geht mir vor allem darum, zu schauen was wirklich die Bedürfnisse junger Menschen sind. Das war in der Pandemie zum Beispiel wahnsinnig krass, weil am Anfang alle gesagt haben: „Wir vermeiden Kontakte, wir haben eine Hochrisikogruppe höheren Alters, wir sind solidarisch in der Gesellschaft.“ Aber am Ende hat man dann gemerkt, dass alles gelockert wurde, nur in Schulen und in der Jugendarbeit nicht. Mir war wichtig klarzumachen, dass die junge Generation, nur weil sie nicht so stark im Parlament vertreten ist, es nicht genauso verdient hätte, jetzt von Lockerungen zu profitieren.

Und da geht es einfach viel darum, dass man im Austausch bleibt und im Parlament selbst vielleicht auch, dass man kritisch bleibt. Dass man Sachen hinterfragt, die seit Jahren schon so gemacht werden, dass man vielleicht für den einen oder anderen älteren Kollegen auch mal ein bisschen forsch rüberkommt. Es ist einfach wichtig, dass man sich nicht mit dem Status quo in der parlamentarischen Arbeit zufrieden gibt.

Eine Ihrer Aufgaben im Landtag ist Ihre Funktion als Sprecher für Europapolitik der grünen Fraktion. Was hat Europa mit dem Bayerischen Landtag zu tun?

Ich sage immer Europapolitik auf Landesebene, das ist Europa zum Anfassen. Natürlich machen wir das ganze klassische Geschäft, das heißt wir geben Stellungnahmen zu EU-Gesetzesvorschlägen ab, nehmen an Konsultationsverfahren teil, und kommentieren Mitteilungen der EU-Kommission. Aber abseits davon gibt es wahnsinnig viel Europapolitik, die man auch auf Landesebene gestalten kann. Bayern hat eine lange Grenze zu Tschechien und Österreich, das heißt wir haben das ganze Feld der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit - und da geht es um grenzüberschreitenden Verkehr, und um die Frage, wie wir Sprachförderung machen, insbesondere im Grenzraum mit Tschechien. Während der Corona-Pandemie ging es auch auf einmal darum, wie Menschen ihre Familien besuchen können, wie Pendler*innen zu ihren Arbeitsstätten kommen und - wenn ich an junge Menschen denke - dann geht es zum Beispiel auch um das riesige Themenfeld der internationalen Schüler*innen- und Jugendaustausche, das ich ganz am Anfang der Wahlperiode bewusst bearbeitet habe.

Sie sind nun seit 2018 im Landtag. Was haben Sie und Ihre Partei konkret für Europa erreichen können?

Ich knüpfe gleich an die internationalen Schüler*innen- und Jugendaustausche an. Ich glaube, jeder kennt den Begriff des Auslandssemesters. Sei es jetzt über Erasmus oder sei es international. Das ist eine feststehende Redewendung. Ganz viele Studierende nutzen das und das ist auch toll, weil man dann Europaaustausch lebt und erlebt. Ich habe das selbst auch machen dürfen und es festigt wahnsinnig das Wertebild, das man von Europa hat. Aber vielen anderen in der Gesellschaft ist das eben nicht vergönnt: Denken wir zum Beispiel mal an Schüleraustausche: 80% finden in Gymnasien statt. In Mittel und Realschulen gibt es das fast nicht. Oder eben an die Möglichkeit während der Ausbildung einen Auslandsaufenthalt zu machen - das sind vielleicht 6% der Azubis, die das bisher machen konnten. Genau da bin ich zu Anfang der Legislatur rein und habe gesagt wir müssen zu einem Punkt kommen, wo alle jungen Menschen innerhalb von Schule, Ausbildung oder Studium wenigstens einmal die Chance haben, europäische oder internationale Erfahrung zu sammeln.

Ich habe dann im Europaausschuss auch eine Sachverständigenanhörung durchgesetzt. Wir haben mit Sachverständigen aus gemeinnützigen Jugendaustauschorganisationen, aus dem Bereich Schule und aus dem Bereich Handwerkskammern gesprochen, um die Frage zu beantworten, wie wir dahinkommen. Im Ergebnis gibt es heute eine Stiftung, ausgestattet mit 30 Millionen Euro, die vor allem den Auftrag hat, Azubis und Schüler*innen an Mittel-, Real- und Förderschulen so einen Aufenthalt zu ermöglichen. Das war für mich auch aus der Opposition heraus vielleicht der größte politische Erfolg für junge Menschen in Europa.

Immer wieder erfahren europakritische Programme in unseren Nachbarländern auch bei jungen Menschen große Zustimmung. Bei Französ*innen unter 30 hieß so zuletzt der Wahlsieger Jean-Luc Mélenchon. Wie können wir mehr Europa bei jungen Menschen schaffen?

Ich glaube das, was sich junge Menschen von Europa versprechen, und das, was man nicht enttäuschen darf, ist das Versprechen auf eine gute Zukunft. Das ist ganz zentral und gleichzeitig darf man aber auch nichts Unerreichbares versprechen. Damit das funktioniert, müssen wir in der Politik ein Stück weit mehr zu einer ehrlichen Kommunikation finden. Die Ukraine-Krise ist ein tolles Beispiel dafür, ehrlich zu kommunizieren: Wir als Europäische Union sanktionieren Russland, aber wir erklären den Menschen in Europa auch, was das für Folgen für ihr Leben hat.

Wirtschaftliche Folgen, finanzielle Folgen, vielleicht auch Folgen, die einfach nur die Bequemlichkeit betreffen und kommunizieren ehrlich, dass eben manche Sachen teurer werden. Wenn wir gemäß unserem Wertekompass Sanktionen verhängen, müssen wir auch bereit sein, dafür an der einen oder anderen Stelle zurückzustecken. Das ist in Bezug auf junge Menschen, die sich im Moment aufgrund der Corona-Krise und aufgrund eines Krieges in Europa nochmal ganz anders die Zukunftsfrage stellen, besonders wichtig.

Wo sehen Sie Europa in 20 Jahren vor dem Hintergrund aktueller politischer Herausforderungen und wo muss Europa besser werden?

Ich würde sagen, dass wir mit Sicherheit in den nächsten 20 Jahren in einigen Politikfeldern weiterkommen, was die Vergemeinschaftung angeht. Wir erkennen gerade in dieser Kriegssituation den Bedarf, Politikbereiche besser gemeinsam zu steuern, zum Beispiel in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Jahrelang konnten sich die Mitgliedstaaten auf nichts einigen. Der Krieg zwingt sie nun ein Stück weit dazu. Ich hoffe, dass wir so klug aus dem Krieg werden, dass es danach einfacher wird, eine echte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu machen.

Das ist auch wichtige, wenn man sich die globale Kräfteverteilung anschaut. Wir haben auf der einen Seite die USA, wo wir momentan das transatlantische Bündnis stärker pflegen. Auf der anderen Seite haben wir China, die sehr bewusst diesen Krieg in Europa beobachten und sich die Frage stellen: Was bedeutet das für uns? Was bedeutet das vor allem auch für die chinesischen Macht und Wirtschaftsmachtbestrebungen im asiatischen aber auch im globalen Raum? Da wäre es wichtig, dass Europa sich schlagkräftiger aufstellt. Ich hoffe, dass es uns in den nächsten 20 Jahren gelingt, selbstbewusster zu werden. Insbesondere sollten wir aber die wirtschaftliche Macht unseres Binnenmarkts in Bezug auf den Klimaschutz bewusst einsetzen. Wir sollten uns trauen, zu sagen: Wir koppeln Handel auch an Werte. Uns also distanzieren vom Prinzip “Wandel durch Handel” und zu einem wertegebundenen Handel finden, um damit tatsächlich auch Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben.

Was würden sie unseren Leser*innen abschließend gerne mit auf den Weg geben?

Europa lebt davon, dass sich Menschen dafür einsetzen - und das nicht alle fünf Jahre bei der Europawahl, sondern im Prinzip täglich. Dafür ist es wichtig, dass man das gemeinsame Europa pflegt. Deswegen hoffe ich, dass alle, jetzt wo wir mit größeren Schritten aus dieser Pandemie rauskommen, die Gelegenheit nutzen, europäische Freundschaften zu pflegen, vielleicht eine andere europäische Sprache zu lernen und sich vor allem auch für das, was in anderen europäischen Ländern passiert, zu interessieren.

Vielen Dank, Herr Siekmann.

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