Sehr geehrter Herr Kohl,
für mich sind Sie eine Figur aus dem Geschichtsbuch. Es klingt merkwürdig, fast abwertend, so etwas über einen lebenden Menschen zu sagen, aber das ist nicht meine Absicht. Sie müssen wissen: Ich habe Ihre Kanzlerschaft nie bewusst erlebt. Als Sie den Bürgern der damaligen DDR blühende Landschaften versprachen, war ich noch nicht geboren. Jahre später, als Sie die Wahl gegen Gerhard Schröder verloren, ging ich in die erste Klasse. Politik, das war etwas für Erwachsene. Weit weg von meiner Lebenswirklichkeit.
Es ist schwer zu sagen, was ich über Sie gedacht hätte, wenn ich alt genug gewesen wäre. Fest steht: Europa hat Ihnen viel zu verdanken. Sie kämpften für den Vertrag von Maastricht, ebneten den Weg für den Euro, setzten Zeichen für die deutsch-französische Freundschaft. Sie taten das alles nicht allein, aber Sie spielten eine zentrale Rolle.
Diese Woche trafen Sie den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Überraschend war das nicht: Sie sind mit Orbán befreundet, gelten als sein Mentor und machten in der Vergangenheit für ihn Wahlkampf. Sie halten ihn für einen „Europäer mit Herzblut“. Sicher war es ein Schlüsselmoment, als Orbán – damals ein 26-jähriger Student – im Sommer 1989 den Abzug der sowjetischen Truppen forderte. Später wurde er ungarischer Ministerpräsident, beschnitt die Befugnisse des Verfassungsgerichtes, schränkte die Pressefreiheit ein, unternahm laut Europarat zu wenig gegen Rassismus, Antisemitismus und Homophobie in Ungarn. Und er ist nicht der einzige Politiker in der EU, der sein Land in die falsche Richtung driften lässt. Ich will ein Europa der Einheit, der Freiheit, der Solidarität. Und wenn es stimmt, was in den Geschichtsbüchern steht, dann wollen Sie das auch.
Ich hoffe, Herr Kohl, Sie haben Ihrem Freund ins Gewissen geredet.
Mit freundlichen Grüßen
Sebastian Gubernator
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