Die Grenze wurde überschritten
Seit Ausbruch der Euroschuldenkrise mussten die europäischen Entscheidungsträger oft in letzter Sekunde Maßnahmen ergreifen, die ein wirtschaftliches und finanzielles Chaos und damit ein Zusammenbruch des Euros (bisher) verhinderten. Ein Blick auf Artikel 123 (Käufe von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) „sind verboten“) oder auf die sogenannte „Nichtbeistandsklausel“ des Artikels 125 (die EU oder ihre Mitgliedsstaaten „haften nicht für Verbindlichkeiten der Zentralregierungen“) des Vertrags über die Arbeitsweise der EU zeigt: Das geschah am Rande der Legalität. Mittlerweile erscheinen die gesetzlichen Vorschriften in etwa so nützlich wie die Anwesenheit von Nigel Farage, Vorsitzender der europaskeptischen Partei UKIP, bei einer Europatag-Feierlichkeit.
Die Methoden der Krisenbekämpfung sind logische Auswirkungen eines wirtschaftlichen und finanziellen Projekts, das vor 15 Jahren demokratisch und gesetzlich realisiert wurde: Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Das Problem: Die Infrastruktur dieses Projekts wurde unvollendet gelassen - und zwar gewollt. Die Folge: Die EZB erwarb Staatsanleihen schwacher EU-Mitgliedsstaaten, um einen gänzlichen Zahlungsverzug zu vermeiden. Paradoxerweise musste sie damit das Europarecht brechen, um es wahren zu können, da die Aufrechterhaltung der Preisstabilität in der Eurozone zu den Herzstücken des Mandats zählt. Eine Staatsinsolvenz hätte diese Stabilität verletzt. Dieser Zustand hat auf oberster EU-Ebene erhebliche Spannungen hervorgerufen. Die Staats- und Regierungschefs der EU debattierten die letzten zwei Jahre darüber, ob der politische Spielball noch „auf der Linie ist“ oder bereits im Aus.
Welche gesetzlichen Bestimmungen sollen geändert werden?
Gesetzlichen Unsicherheiten und Improvisation ist für eine Europäische Union, die von sich selbst behauptet, von Rechtsstaatlichkeit bestimmt zu sein, nicht akzeptabel. Selbst dann nicht, wenn es darum geht, eine Katastrophe abzuwenden. Die anhaltende Doppeldeutigkeit der EU-Richtlinien könnte letzten Endes zu einer Bedrohung für die Glaubwürdigkeit der Rechtsgrundlagen der EU werden. Auf lange Sicht würde auch zu viel Macht an den Europäischen Gerichtshof abgegeben werden. Dieser müsste fallweise neues Recht schaffen, um die Lücken zu füllen, zu deren Vervollständigung demokratisch gewählte Regierungen nicht gewillt sind.
Wenn die EU den Euro tatsächlich auf lange Sicht halten will, müssen mehrere Vertragsänderungen ausgeführt werden. Zudem muss die EZB dazu befähigt werden, Staatsanleihen frei zu erwerben, ohne ihr Hauptziel (zwei Prozent Inflation) zu gefährden. Nur so kann sie ihrer Funktion als Zentralbank fachgerecht nachgehen. Um Jahre unnötiger und vertrauenszerrüttender Unsicherheit zu vermeiden, muss eine Form von Staatschulden eingeführt werden, die auf Gegenseitigkeit beruht und die mit stärkeren Kontrollen der Staatsausgaben (zum Beispiel über ein Vetorecht der EU bei einzelstaatlichen Budgets) einhergeht. Damit können Exzesse, wie sie etwa in Griechenland im Laufe des letzten Jahrzehnts entstanden sind, abgewendet werden. Die bevorstehende Bankenunion braucht ebenso eine starke gesetzliche Untermauerung. Die EZB könnte dabei als Aufsichtsorgan der europäischen Banken fungieren. Eine Zusammenlegung der Bankschulden könnte zudem durch den Ankauf von Anteilen von in Not geratenen Banken durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) erreicht werden. Zu guter Letzt ist ein größeres EU-Budget notwendig. Divergenzen im Wettbewerb könnten verstärkt durch finanzielle Transfers abgeschwächt werden. Von dieser Maßnahme würden alle profitieren, da Europas Wohlstand hauptsächlich von der Stärke und Geschlossenheit des gemeinsamen Marktes abhängt – je umfangreicher er ist, desto besser.
Die Büchse der Pandora
Allerdings sind all diese scheinbar fachlichen Reformen vielmehr politische Entscheidungen. Denn Änderungen der EU-Verträge erfordern ein einstimmiges Votum. Neuverhandlungen könnten damit zur Büchse der Pandora werden, da sie die Konflikte und Unstimmigkeiten zwischen der mittlerweile größer gewordenen Anzahl der Mitgliedsstaaten erneut deutlich machten. Eine erfolgreiche Änderung der EU-Verträge müsste somit Hand in Hand mit einer weitergreifenden demokratischen Reform der EU gehen. Diese darf nicht jedem Land ein Vetorecht bei Vertragsänderungen einräumen, sondern muss anerkennen, dass einige europäische Länder mit der Integration schneller voranschreiten wollen als andere.
Die acht Jahre andauernden Verhandlungen des Lissabon-Vertrags lehren uns, dass es ein schmerzhafter Prozess sein kann, bestehende Regeln zu ändern. Doch die Alternative – dabei zuzusehen, wie das gesamte gesetzliche Gerüst der EU langsam in sich zusammenbricht – ist schlichtweg keine Option. Die europäischen Staatsoberhäupter haben gezeigt, dass sie in Zeiten höchster Not schnell und mutig handeln können. So beschlossen sie innerhalb weniger Monate sowohl den Fiskalpakt als auch den Vertrag über den Eurorettungsschirm. Manch einer mag argumentieren, dass ein solcher Durchbruch nur dank der Krise möglich war. Diese ist jedoch noch lange nicht überstanden, besonders nicht für die sechs Millionen jungen EuropäerInnen, die momentan arbeitslos sind. Mutige Beschlüsse seitens der Entscheidungsträger sind immer noch dringend notwendig. Nur so kann die Hoffnung und glaubwürdige Vision an ein vereintes und dynamisches Europa, das allen nützt, aufkeimen.
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