Im Kampf um den Rechtsstaat

Protest gegen das Gesetz zum Obersten Gericht

, von  Michał Wyrębkowski, übersetzt von Jagoda Pokryszka

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Im Kampf um den Rechtsstaat

Vor einem Jahr hat in Polen der Kampf um die Unabhängigkeit der Judikative begonnen. Die Proteste im ganzen Land haben zum Veto des Präsidenten geführt, der zwei der drei umstrittenen Gesetzentwürfe blockiert hat. Das Gesetz über das Oberste Gericht wurde dennoch vom Präsidenten unterschrieben und ist am 3. April 2018 in Kraft getreten. Eine der wichtigsten Änderungen sollte in der Nacht vom 3. auf den 4. Juli umgesetzt werden und betraf das Pensionierungsalter der Richter. In Reaktion darauf haben sich die Protestierenden wieder vor dem Sitz des Obersten Gerichts versammelt.

DIE DRITTE MACHT

Im Rahmen der Gewaltenteilung von Montesquieu kontrolliert die richterliche Gewalt die Legislative und die Exekutive. Sie gilt als die letzte Verteidigungslinie gegen verfassungs- und rechtswidrige Handlungen der Regierenden. Das erste Opfer der Gesetzesänderungen wurde der Verfassungsgerichthof. Dadurch hat die Regierung Carte Blanche bekommen und konnte die weitgehenden Modifikationen im vorhandenen Gesetz einführen.

Kein Wunder, dass das Oberste Gericht das nächste Ziel der Machthabenden wurde. Im polnischen Gesetz entscheidet es über die Gültigkeit der Wahlen und Volksabstimmungen, was seine wichtige Rolle im politischen System hervorhebt. Das neue Gesetz hat ein relativ niedriges Pensionsalter für die Richter eingeführt (65 Jahre), vorausgesetzt dass sie keine Erlaubnis zur weiteren Rechtsprechung von dem Präsidenten erhalten. Verglichen mit den anderen juristischen Systemen ist das eher eine Ausnahme und nicht die Regel. Das Paradebeispiel wären die Vereinigten Staaten, wo es kein Pensionsalter für die Richter des Obersten Gerichts gibt. Sie werden auf ihre Lebenszeit gewählt. Da die Erste Vorsitzende des Obersten Gerichts in Polen am Tag des Inkrafttretens des Gesetzes schon über 65 war, hätte sie ihre Arbeit beenden sollen.

Man muss gleichzeitig darauf hinweisen, dass das Prinzip der Unkündbarkeit der Richter in der polnischen Verfassung im Artikel 180 festgeschrieben ist. Die Herabsetzung des Pensionsalters und die Verkürzung der Amtszeit der Ersten Vorsitzenden (dem neuen Gesetz nach) ist dementsprechend eine Verletzung des Grundgesetzes. Wichtig ist es auch zu wissen, dass sich der Verfassungsgerichtshof mit dem kontroversen Gesetz beschäftigt hat. Es wurde beurteilt, dass es teilweise verfassungswidrig ist, aber die Verkürzung der Amtszeit wurde nicht erwähnt. Die Mehrheit der Richter des Obersten Gerichts beharrt darauf, dass Malgorzata Gersdorf – die Erste Vorsitzende – im Amt bis 2020 bleiben sollte. Wie es die Verfassung besagt.

ZUSAMMEN FÜR DEN RECHTSSTAAT

Am Morgen 4. Juli – an dem Tag, an dem die Gesetzesänderungen in Kraft getreten sind – hat Malgorzata Gersdorf eine Menge der protestierenden Menschen auf dem Platz vor dem Obersten Gericht getroffen. Am Tag zuvor war man während der Verhandlungen mit dem Präsidenten zu keiner Einigung gekommen : 27 Richter, die das neue Pensionsalter schon erreicht hatten, wurden aus der Rechtsprechung ausgeschlossen, zumindest bis zum Erhalt der Erlaubnis vom Präsidenten. Da die Erste Vorsitzende an den Tagen Urlaub geplant hat, hat sie den Richter Jozef Iwulski zu ihrem Stellvertretenden – und nicht Nachfolger, wie manche behaupten – ernannt.

Die vor dem Sitz des Obersten Gerichts versammelten Polen haben jedoch nicht nur gegen das eingeführte Pensionsalter protestiert. Es ist ein Kampf um die Prinzipien – die Grundlagen des demokratischen Staates wie die Unkündbarkeit der Richter oder die Unabhängigkeit der Gerichte. Der Streit hat eigentlich mit dem Sieg der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in den Parlamentswahlen 2015. Die Machtübernahme von der PiS hat tief die politische Szene und die polnische Gesellschaft gespalten. Es wäre dennoch zu einfach zu sagen, dass die Seiten der Auseinandersetzung Osten-Westen, Stadt-Lande, Liberalismus gegen Konservatismus sind.

Trotz allen Anscheins findet der Streit innerhalb einer Gruppe statt, die gemeinsame Wurzeln in der Bewegung „Solidarnosc 80“ (Solidarität 80) hat. Die gegenseitigen Animositäten, die Ambitionen der Parteiführer, die inneren Reibereien sind die Ursache des Konflikts, der sich in der Änderung der Grundlagen des Rechtsstaates äußert. Es geht nicht um eine ideologische Vision der Partei, die gibt es nämlich nicht. Die Machtübernahme in der Judikative dient der Beibehaltung der Macht und der Legitimierung des eigenen Handelns.

BUDAPEST AN DER WEICHSEL

Die Opposition meint, dass sich Polen langsam in eine autoritäre Staatsform verwandelt und die liberale Demokratie untergeht. Es wird allgemein behauptet, dass Polen das Modell der „Orbanisierung“ des politischen Lebens gewählt habe. Man sollte aber Warschau mit Budapest nicht vergleichen. In Polen hat die Demokratie ihren Platz schon längst gefunden. Der Kriegszustand 1981-1983 wurde nicht vergessen. Polen werden also die autoritäre Regierung nicht akzeptieren. Zu weitgehend wäre die Aussage, dass Polen für Demokratie prädestiniert sind, aber man kann nicht vergessen, dass Königliche Republik Polen-Litauen der größte demokratische Staat im neuzeitlichen Europa war. Es war auch das zweite Land der Welt, wo die Verfassung beschlossen wurde. Die Proteste rund um das Oberste Gericht haben noch eins gezeigt. Die Jugend hat nicht die Gerichte verteidigt, sondern, basierend auf Fake News, ACTA 2.0. Die Demonstrationen waren trotzdem nicht besonders groß, der Widerstand wurde vor allem in Social Media zum Ausdruck gebracht. Laut der Umfragen würden die Jungen die populistischen Parteien wählen, zum Beispiel Kukiz 15. Es taucht die Frage auf, warum die Jungen Populismus und das Radikale wählen.

Einerseits kann man dieses Phänomen mit dem Privileg der Jugend erklären. Man bestreitet die Autoritäten und alte Regeln. Andererseits ist das Bildungssystem daran schuld. Es lehrt kein kritisches Denken und bringt keine Prinzipien der Demokratie bei. Die populistischen Parteien wiederum verlangen das ihren Wählern nicht ab. Die richterliche Gewalt ist eine Grundlage jedes demokratischen Systems. Indem seine Autorität untergraben wird, was gerade von der Partei Recht und Gerechtigkeit unternommen wird, zerstört den Glauben vor allem von jungen Leuten an den Rechtsstaat. Soviel man die schädlichen Reformen widerrufen kann, ist es schwieriger, den Glauben an die Demokratie wieder zu herstellen.

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