treffpunkteuropa.de: Wie sind Sie in die Europapolitik gekommen?
Arturo Winters: Meine eigene Identität hängt sehr stark mit Europa zusammen. Ohne die EU wüsste ich nicht, wo mein Platz auf dieser Welt wäre. Mein Vater ist deutscher Herkunft, ein Teil meiner Familie kam aus Schleswig und landete letztendlich in Italien. Meine Mutter ist Dänin, aber in Paris aufgewachsen und später nach Mailand gezogen, wo ich geboren wurde. Jetzt lebe ich seit 5 Jahren in Berlin und studiere Physikalische Ingenieurswissenschaften mit Schwerpunkt Thermodynamik und Numerik.
Mein bisheriges Leben und die Geschichte meiner Familie haben mir gezeigt, dass in der EU die Unterschiede über Grenzen hinweg oft kleiner sind als innerhalb von Mitgliedsstaaten. Daher finde ich Diskussionen über einen Identitätsverlust überflüssig. Ich glaube, dass man gleichzeitig eine regionale, eine nationale und eine europäische Identität haben kann. Sie ergänzen sich miteinander. Durch unser gemeinsames kulturelles Erbe und die Gelegenheit, aus den vielen Perspektiven Chancen zu schaffen, sehe ich die EU als perfekte Plattform an, um sich zu engagieren und Antworten auf Fragen zu geben, die Nationalstaaten alleine nicht finden können. Meine Motivation bezüglich der EU ist vor allem idealistischer Natur: Ich glaube, dass wir als Europäer*innen die einmalige Chance in der Weltgeschichte haben, Menschen und Ideen nicht durch „Blut und Eisen“, sondern durch Demokratie und Kooperation zusammenbringen können.
Können Sie von einer Muttersprache oder einem Hauptbezugsland sprechen, obwohl Ihre Biografie sehr europäisch geprägt ist?
Ich würde eher von Regionen statt Ländern in Europa sprechen. Beispielsweise kenne ich Süditalien nicht so gut, obwohl ich einen starken italienischen Hintergrund habe und Italienisch eine meiner Hauptsprachen ist. In Deutschland kenne ich wiederum Berlin sehr gut. In Dänemark und Frankreich jeweils Paris und Kopenhagen, weil dort Familienangehörige von mir leben. Ich spreche Deutsch, darüber hinaus noch Englisch und kann mich auf Französisch und Dänisch verständigen.
Sie haben ihr technisches Studium erwähnt: Inwiefern prägt Ihre ingenieurswissenschaftliche Vorbildung Ihre politische Tätigkeit? Gibt es Anknüpfungspunkte zur EU-Politik?
Die Herausforderung der Energiewende und die Schaffung einer nachhaltigen Gesellschaft steht im Zentrum des heutigen politischen Diskurses. Dabei bin ich besonders der „Fridays For Future“-Bewegung dankbar, einen Impuls gesetzt zu haben. Was im politischen Betrieb selten vertreten ist, aber sehr nützlich wäre, ist technisch-physikalisches Wissen. Da sind wir Naturwissenschaftler*innen aber bislang in der Minderheit. Das Wissen hilft dann, zum Beispiel zu entscheiden, was für Projekte auf EU-Ebene gefördert werden sollen, um eine Klimaneutralität 2050 zu erreichen - man könnte z. B. besser evaluieren, wie die Energieeffizienzrichtlinie zu verbessern oder auszuweiten ist. Der Umweltschutz ist einer der Prioritäten der neuen EU-Kommission. Unser Vize-Kommissionspräsident ist für die Umsetzung des sogenannten „Green Deals“ zuständig. Ziel soll es sein, in Europa auf sozial gerechte Weise die Energiewende zu schaffen.
Was sind Ihrer Meinung nach die größten Problemfelder in der EU? Wo liegen die strukturellen Probleme?
Ich glaube, es gibt vier hauptsächliche Problemfelder oder Herausforderungen in der EU: Eine schwache gemeinsame Außenpolitik, Probleme bei der Sicherung der Rechtsstaatlichkeit, unvollständige Energiewende und die Schaffung eines funktionierenden europäischen Wirtschaftssystems. Wie der Wirtschaftsnobelpreisträger Stiglitz analysiert hat, führt der Euro letztendlich zu einer Divergenz innerhalb der EU, was nicht das Ziel unserer Währungsunion sein kann. Strukturelle Probleme sehe ich darin, dass der Rat der Europäischen Union noch zu viel Macht besitzt und intransparent ist. Während im Europäischen Parlament stets ersichtlich ist, wie Abgeordnete abgestimmt haben, ist dies im Rat nicht ersichtlich, auch sind dessen Sitzungen nicht immer öffentlich. Dadurch wird das EU-Parlament komplett unterminiert, obwohl sich dort vielleicht eine klare Mehrheit bildet.
Bei Fragen der Rechtsstaatlichkeit zeigt sich deutlich, welche Probleme in den Entscheidungsprozessen der EU auftreten. Obwohl eine breite Mehrheit des Parlamentes für der den Rechtstaatlichkeitsverfahren gegen Polen und Ungarn - Stichwort Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union - gestimmt hat, wird dieses wohl nie zu Sanktionen – Stichwort Stimmentzug - führen. Die Feststellung einer Rechtstaatlichkeitsverletzung und somit der Einleitung entsprechender Konsequenzen muss einstimmig im Rat der EU beschlossen werden. Also können jeweils Ungarn und Polen das Verfahren blockieren. Das ist genau das Problem: Wir haben ein direkt gewähltes Parlament, aber in vielen Felder kann dieses nicht maßgeblich mitentscheiden. Damit man einer Organisation wie der EU vertrauen kann, muss man sich vertreten fühlen. Dazu benötigt man ein starkes Parlament.
Aber ich möchte nicht nur negative Seiten beleuchten: In den Bereichen Wirtschaft und Finanzen hat gerade in den letzten Jahren sowie durch die aktuelle Corona-Pandemie ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Die Währungsunion wird durch gemeinsame Finanzierungmöglichkeiten und automatische Stabilisatoren – Stichwort Recovery Fund und Ansätze einer Arbeitslosenversicherung wie „SURE“ vervollständigt. Die Vorschläge der Kommission für den nächsten Haushalt und den Recovery Fund gehen in die richtige Richtung: Das ist der richtige Weg, um Wohlstand für alle zu schaffen.
Um direkt anzuschließen: Was kann Ihrer Meinung nach in diesem Halbjahr von deutscher Seite aus getan werden, um die Staatengemeinschaft zu stärken?
Angela Merkel hat in ihrer Rede vor dem Europaparlament eine mutige Rede gehalten: Deutschland werde viele der oben genannten Probleme im Laufe der Ratspräsidentschaft anpacken. Unter dieser Ratspräsidentschaft sollte wohl auch die sogenannte „Konferenz zur Zukunft Europas“ beginnen. Dieses Projekt möchte einen offenen Dialog zwischen den EU-Institutionen und den Europäer*innen schaffen, um festzulegen, wie die EU verbessert werden kann. Dieser Prozess sollte letztendlich zu einer Vertragsveränderung führen, die angesichts der angesprochenen Probleme notwendig sind. Es ist trotz der Corona-Krise wichtig, gerade jetzt mit der „Konferenz zur Zukunft Europas“ anzufangen, wo wie gesagt das Rechtsstaatlichkeitsprinzip in der EU bedroht ist und Europa wirtschaftlich nach der Corona-Krise wiederaufgebaut werden muss. Das kann Deutschland in seiner Ratspräsidentschaft tun.
Sollte die EU eher reformiert werden oder ist angesichts aller strukturellen Probleme vielleicht ein Neustart des Projekts sinnvoller?
Eine Vertragsänderung ist für mich letztendlich ein Neustart. Bei dem Prozess werden immer viele Veränderungen stattfinden, wie groß sie auch sein mögen. Dabei möchte ich betonen, dass wirklich alle, nicht nur die EU-Enthusiast*innen und Föderalist*innen wie ich in eine offene Diskussion zur Zukunft Europas einbezogen werden sollten.
In einer solchen Diskussion würde sicherlich die Finalitätsfrage eine große Rolle spielen: Wird die Frage einer „ever closer union“ das ewige Laster der EU werden oder ist dies Ihrer Meinung realistisch?
Das ist in den nächsten Jahren zu besprechen, aber die EU tendiert auf jeden Fall sehr dazu, sich zu einer immer engeren Union zu entwickeln.
Wie Helmut Schmidt schon bei einem Parteitag sagte: Er sei - im Gegensatz zu mir - kein Europäer aus Leidenschaft, sondern aus rationalen Gründen. Er sagte, dass in den nächsten Jahrzehnten das Gewicht europäischer Nationalstaaten bevölkerungsmäßig nicht mehr in Prozent, sondern in Promille gemessen sein wird. Die USA sind nicht immer ein zuverlässiger Bündnispartner mehr und Länder mit autokratischen Zügen gewinnen an Einfluss.
Wenn wir Europäer*innen mit unseren demokratischen und freiheitlichen Werten die Welt mitgestalten wollen, dann geht es nur gemeinsam. Wenn wir Europäer*innen uns für getrennte Wege als Nationalstaaten entscheiden, dann wird Europa ein Spielball von mächtigen, potenziell autokratischen Blöcken werden.
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